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Pater Bell zuckte die Achseln. »Der fünfte Sohn und das fünfte Element? Sie könnten recht haben. Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass sich mein Wissen über Erdmagie und ihre Möglichkeiten in Grenzen hält. Ich war schließlich römisch-katholischer Priester, kein Druide.«

Pater Bell sah sich um. »Was für ein Höllenloch!«, bemerkte er. »Wie oft saß ich mit Quintus Miller hier und versuchte, vernünftig mit ihm zu reden und zu seinem gesunden Verstand durchzudringen. Doch daran scheiterte sogar Elmer Estergomy.«

»Und trotzdem sollten wir ihn vielleicht rufen«, schlug Jack vor.

Pater Bell erlaubte sich ein schwaches Lächeln. »Ich glaube nicht, dass wir ihn rufen müssen, Mr. Reed. Er weiß längst, dass wir hier sind, stimmt’s, Quintus?«

Der Regen prasselte hinter dem mit Staub bedeckten, im Laufe der Jahre wackelig gewordenen Schutznetz aus Stahl gegen das Fenster. Die Zeit hatte das Gebäude genauso bestraft wie seine Bewohner. Doch Quintus Miller drang mehr als je zuvor auf Freiheit und Rache, während Pater Bell ausgemergelt und zerbrechlich wirkte. Er wollte nichts weiter als seine Ruhe, seine Thriller vom Buchclub und sein langweiliges Zimmer in grellem Orange mit den schlichten Möbeln aus Kiefernholz. Selbst 60 Jahre voller Enttäuschungen und Langeweile hielt er für verlockender als 60 Sekunden Höllenqualen.

Es kam keine Antwort. Jack lauschte, doch diesmal rauschte kein Ssssschhhhh durch die Wand, kein verräterisches Schleppen menschlicher Körper durch Stein oder Zement.

»Vielleicht sollten wir es besser im Keller versuchen«, schlug Jack vor, obwohl er am liebsten einen riesigen Bogen um diesen schrecklichen Ort gemacht hätte. »Dort haben sie versucht, mich in den Boden hineinzuziehen, und da unten habe ich auch Randys Spielzeug entdeckt.«

Pater Bell bedeutete ihm mit einer Handbewegung, sich kurz zu gedulden. »Moment noch. Ich fühle etwas. Da bin ich mir absolut sicher.«

Jack wartete und lauschte. »Ich weiß nicht recht, Pater. Ich höre nichts.«

Einige Momente verstrichen in absoluter Stille. Nur ein leises Knistern war zu hören. So würde man es wohl auch auf einem verlassenen Platz mitten in der Nacht wahrnehmen, über den der Wind weggeworfene Zeitungen wehte. Der Regen und das nervenaufreibende Klappern einer Tür im Erdgeschoss komplettierten die Geräuschkulisse.

Pater Bell näherte sich dem auf die Wand gekritzelten Hexagramm. »Das ist der Eingang zur Unterwelt«, erklärte er. »Ein Portal, wenn Sie verstehen, was ich meine. Das Hexagramm ist der Zugang zum Labyrinth, das einen an die Stelle führt, an der sich die Leylinien kreuzen. Von dort, mein Freund, können Sie überall hingelangen.«

Er legte die Hand auf das Symbol und untersuchte es mit konzentrierter Miene. »Im 15. Jahrhundert waren Okkultisten ziemlich pragmatisch, was Reisen von einem Element zum anderen betraf. Sie betrachteten die Elemente lediglich als eine Art Leiter, über die man von der steinernen Unterwelt ganz unten bis zum Himmelreich ganz oben kletterte. Waren alle Bedingungen erfüllt, konnte die menschliche Seele in all diesen Elementen existieren, so wie Fische überall in den Weltmeeren herumschwimmen.«

Jack sah ihn beunruhigt an. »Was mich interessiert, ist, wie Quintus Miller und der Rest der Patienten in die Wand gelangt sind. Sie behaupten, das wäre ein Portal. Aber wie öffnet man es? Man kann ja schließlich nicht einfach in massiven Stein hineinspazieren!«

Pater Bell ließ seine Hände immer noch auf der Zeichnung auf dem Gips ruhen. »Es wäre nicht das erste Mal. Sie kennen sicher die uralte Legende von Theseus, der ein Labyrinth auf Kreta betritt, um dem Minotaurus entgegenzutreten. Dann gibt es natürlich auch deutlich jüngere Schilderungen. Denken Sie etwa an den Rattenfänger von Hameln, der alle Kinder der Stadt mitten in einen Berg hineinführte.«

»Ja, aber wie funktioniert es?«

»Es gibt Rituale für den Eintritt in die Unterwelt, genau wie es Rituale gibt, um in den Himmel zu gelangen. Im Grunde ist das kein großer Unterschied. Im Kirchenschiff der Kathedrale im französischen Chartres befindet sich ein Irrgarten, den man durchlaufen kann. Die Bewegungen, die man dabei absolviert, sind ein ritueller Tanz und zugleich Teil einer Prozedur, mit der man sich in einen Zustand göttlicher Spiritualität versetzt.«

Jack schlug mit der Faust gegen die Wand. »Aber das ist massiver Stein, verdammt noch mal! Ziegel sind wohl kaum besonders spirituell. Kein Geisteszustand, sondern nichts weiter als gebrannter Lehm!«

»Wenn Quintus Miller es geschafft hat, schaffen wir es auch«, beharrte Pater Bell. »Wir sollten in Elmer Estergomys Bibliothek nachsehen. Wahrscheinlich finden wir dort einen Hinweis über das notwendige Ritual.«

Jack trat zurück. Er fragte sich, ob es wirklich so eine gute Idee gewesen war, den Geistlichen mit nach The Oaks zu bringen. Obwohl es in der Wand knisterte und kratzte und sich das ganze Gebäude in ständiger Bewegung zu befinden schien, hielten sich Quintus Miller und seine Anhänger gut versteckt. Von Randy fehlte weiterhin jede Spur und weder Lester noch sonst jemand schien ihm helfen zu wollen, seinen Sohn zurückzubekommen.

»Lester!«, brüllte er noch einmal. »Lester, ich habe euch den Priester gebracht!«

Wieder kam keine Antwort. Jack fühlte, wie sich kalte Verzweiflung in seinem ganzen Körper breitmachte.

»Lester!«, rief er erneut. »Lester, kannst du mich hören, verdammt noch mal? Du hast mir versprochen, dass ihr mir meinen Sohn zurückgebt!«

Fast unmittelbar nach seinem Rufen beulte sich die Wand in der Mitte des Hexagramms aus. Sie nahm die Form eines menschlichen Gesichts an. Das Gesicht eines Jungen – Randys Gesicht. Jack starrte es regungslos an. Er wusste nicht, ob er entsetzt oder erfreut sein sollte. Vielleicht hielt Lester ja doch Wort und ließ Randy gehen. Doch die große Frage war: Was verlangte er dafür als Gegenleistung?

Randys Gesicht, blass wie die Wand, öffnete die ebenfalls weißen Augen.

Daddy? Mir gefällt es hier nicht. Bitte hilf mir! Es klang wie eine ausgeleierte Kassettenaufnahme von Randys Stimme.

Jack trat vor, doch Pater Bell hielt ihn zurück.

»Nicht, Mr. Reed – noch nicht. Es könnte sich um eine Täuschung handeln. Quintus war schon immer ausgesprochen hinterhältig.«

Daddy!, flehte Randy. Du musst mir helfen! Bitte, Daddy, hilf mir!

»Was soll ich tun, Raumflieger?«, erkundigte sich Jack. ›Raumflieger‹ war ein Kosename, den Jack seinem Sohn verpasst hatte, als der noch ganz klein war und sich mit Vorliebe und unter lautem Kichern von seinem Vater durch die Luft werfen ließ.

Daddy, sie wollen frei sein!

Pater Bell packte Jacks Arm noch fester. »Nein!«, keuchte er. »Sie dürfen sie nicht freilassen! Das wäre absoluter Irrsinn! Sie würden morden und vergewaltigen! Sie haben ja keine Ahnung! Diese Geisteskranken sind inzwischen keine Menschen mehr!«

Bitte, Daddy!, flehte Randys maskenhaftes Gesicht.

Jack wandte sich an den Pater. »Hören Sie mal zu. Sie behaupten also, dass sie außer Rand und Band geraten, wenn wir sie freilassen. Aber was sollen sie denn großartig anstellen? Sie sind geistig zurückgeblieben. Sie sind seit über 60 Jahren hier gefangen. Essie Estergomy hat uns erzählt, dass einige auch körperlich behindert sind. Und die Hälfte von ihnen ist splitternackt. Was können sie also tun? Wenn sie flüchten, werden sie ganz schnell von der Polizei aufgegriffen. Besonders, wenn wir die Beamten darauf vorbereiten.«

Pater Bell wollte Jacks Ärmel immer noch nicht loslassen.

»Mr. Reed, Sie haben keine Vorstellung von ihrer Stärke und ihrer Bösartigkeit. Was glauben Sie denn, warum man sie damals nach The Oaks gebracht hat? Haben Sie das Metallgitter an den Treppenfenstern gesehen? Sind Ihnen die Beulen darin aufgefallen? Im einen Moment lächelten, lachten oder unterhielten sie sich damals miteinander – eine Sekunde später warf sich dann einer von ihnen gegen das Netz und kugelte die Treppe herunter, schrie und zuckte mit Schaum vor dem Mund.«