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Jack stand da und schnaufte, während die Tropfen auf ihn herunterprasselten. Er betete darum, dass es sich lediglich um einen schrecklichen Albtraum handelte. Du wirst gleich aufwachen, Jack, zu Hause in deinem Bett. Maggie hat sich an dich gekuschelt und die Sonne dringt durch die rosafarbenen Schlafzimmervorhänge hinein. Du kannst das blecherne Geräusch des Fernsehers hören, den Randy im Wohnzimmer ganz leise eingeschaltet hat, um sich eine dieser Zeichentrickserien im Morgenprogramm anzuschauen. Speedy-bee, Speedy-bo, die schnellste Maus von Mexiko-o-hoo!

Er wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht. Sein Kombi stand am Ende der Allee. Sobald der Regen ein wenig nachließ, würde er schnell hinüberlaufen. Jack wurde das Gefühl nicht los, dass es seit dem Tag seiner Geburt ununterbrochen geregnet hatte. Er konnte sich nicht mehr an Sonnenschein oder Schnee erinnern. Nur an seinen Vater, der sich zu ihm beugte und ihm die Hand wie eine Pranke aufs Knie legte, während der Regen draußen auf den See klatschte. Und sein Vater sagte: »Wenn du nichts zu sagen hast – dann sag nichts. Das ist mein Motto.«

Jack fand später heraus, dass jemand namens Charles Colton genau das Gleiche gesagt hatte, nur etwa zwei Jahrhunderte früher. In diesem Moment verblasste die Erinnerung an seinen alten Herrn wie ein zu lange belichtetes Foto.

Er streckte eine Hand in den Regen. Da kam eine knochige Hand aus der Dunkelheit und hielt ihn am Handgelenk fest. »Wuaah!«, schrie er erschrocken auf und prallte schmerzhaft gegen die Mauer des Hauses.

Eine Taschenlampe blendete ihn. Dann erschien ein Gesicht. Es gehörte zu einer erschrockenen alten Dame, die eine Mütze wie Sherlock Holmes und einen braunkarierten Umhang trug.

»Mr. Reed? Ich wollte Sie nicht erschrecken.«

Es war Olive Estergomy – Essie. Jack hob abwehrend die Hände und sagte zu ihr: »Schon in Ordnung. Schon gut. Sie haben mich überrascht, das ist alles.«

»Mr. Reed, Sie sind ja voller Blut.«

Er blickte an sich hinunter. Sein Mantel war übersät mit Flecken von Pater Bells Blut. Es war inzwischen getrocknet und hatte eine rostige Färbung angenommen, aber es war Blut, daran bestand kein Zweifel.

»Es stammt nicht von mir«, erklärte er, »sondern von Pater Bell. Er ist … nun, es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen, aber er ist tot.«

»Tot« erschien nach den Qualen, die Pater Bell erlitten hatte, wie ein Euphemismus. Das Feuer, die Schmerzen, dann die Amputation seiner Arme.

Essie leuchtete mit der Taschenlampe das Haus an. »Tot?«, fragte sie.

»Es ist alles meine Schuld!«, klärte Jack sie auf. »Er hat mich gewarnt, dass es gefährlich sein würde, aber ich wollte es einfach nicht wahrhaben.«

Essie zielte mit dem Lichtkegel wieder auf ihn. Sie schien tief in Gedanken versunken. »Mr. Reed, ich konnte nicht schlafen. Also habe ich bei Ihnen im Motel angerufen, aber man sagte mir, Sie seien nicht da. Deshalb bin ich hergekommen, um hier nach dem Rechten zu sehen.«

Jack antwortete: »Bitte begleiten Sie mich zurück zum Auto. Es ist etwas vorgefallen, etwas Schlimmes.«

»Etwas Schlimmes? Was meinen Sie damit?«

Jack erklärte: »Ich habe Pater Bell oben in Green Bay gefunden. Er war kein Priester mehr, doch nach wie vor sprachen ihn alle als Pater an. Er bestätigte meine Theorie, dass die Patienten all diese Jahre in der Wand gefangen waren. Quintus Miller, Lester Franks, Gordon Holman und der ganze Rest. Sie sind durch eine Art Magie dort festgehalten worden. Es ist nicht ganz einfach zu beschreiben. Er sprach von Erdmagie. Etwas, woran die Druiden glaubten.«

Essie Estergomy starrte ihn unter ihrer tropfenden Hutkrempe an.

»Sie haben ihn getötet«, fügte Jack hinzu. Er versuchte, ihr die genaueren Umstände begreiflich zu machen. Berichtete, wie Randys Gesicht in der Wand erschienen war, dann das von Gordon Holman. Dass Pater Bell gepackt, gequält und schließlich verstümmelt worden war. Doch in der kühlen Gewitternacht mitten in Wisconsin, begleitet von Blitzen, die zuckten, und Regen, der auf die Bäume fiel, kamen ihm seine eigenen Worte hohl und unglaubwürdig vor.

Ängstlich erkundigte sich Essie: »Haben Sie die Polizei verständigt?«

Jack sah zur Seite. »Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee wäre«, antwortete er ausweichend.

»Mr. Reed! Ein Mann ist ermordet worden!«

»Ja«, bestätigte er. Doch wie konnte er ihr offenbaren, dass Tausende weiterer Menschen geopfert werden mussten – 800 unschuldige Leben für jeden einzelnen Patienten, der aus The Oaks geflohen war? Und wie konnte er ihr beichten, dass dieses ganze Massaker allein dazu diente, sie wieder in die wahre Welt zurückzuholen, die Welt aus Luft und Feuer? Gott allein wusste, was sie anstellten, wenn sie ihre Freiheit wiedererlangt hatten.

Also sagte Jack nur: »Ich weiß, dass ich – Na ja, ich weiß, dass ich mich nicht wie andere in meiner Situation verhalte. Aber lassen Sie uns bis morgen warten, ehe wir die Polizei verständigen. Ich muss nachdenken, verstehen Sie? Die Polizei könnte die Lage noch verkomplizieren. Ich muss in Ruhe überlegen, was zu tun ist.«

»Sie steckten wirklich in der Wand? In den Backsteinen?«, hakte Essie nach. Sie leuchtete mit der Taschenlampe auf die Seite des Gebäudes. Der Lichtkegel fiel auf eine der Skulpturen mit ihren geschlossenen Augen.

»Ich glaube, hier draußen sind wir besser aufgehoben«, erklärte Jack ihr. »Sie sind nicht nur gefährlich, sondern auch ausgesprochen wütend. Die lange Gefangenschaft hat sie rachsüchtig gemacht.«

Essie zögerte, aber nur eine Sekunde lang, dann nickte sie. »Mein Auto parkt direkt neben Ihrem.«

Jack hakte sich bei ihr unter und gemeinsam gingen sie mit flottem Schritt durch die Eichenallee. Ihre Schuhe knirschten im Kies.

»Sicher wird uns die Polizei helfen können«, zeigte sich Essie überzeugt. »Wenn die Patienten tatsächlich entkommen sind, werden sie zur Fahndung ausgeschrieben und wieder eingefangen. Ich habe immer noch die Aufnahmeliste meines Vaters mit sämtlichen Fotos.«

»Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass die Polizei uns Glauben schenken wird, oder? 137 Irre waren mehr als 60 Jahre lang in der Wand einer ehemaligen psychiatrischen Anstalt eingesperrt und nun sind sie entwischt? Ich höre sie jetzt schon lachen.«

»Aber wir können es ihnen doch sicher beweisen«, wandte Essie ein. »Wir finden bestimmt eine Möglichkeit, um sie zu überzeugen.«

»Was sollen wir ihnen denn zeigen?«, wollte Jack wissen. »Pater Bells Leiche? Und wie werden sie Ihrer Meinung nach darauf reagieren? Sie werden mich sofort hinter Schloss und Riegel sperren, und zwar ohne Chance auf Bewährung, während Quintus Miller und seine durchgedrehten Kumpane da draußen rumlaufen.«

Essie hielt inne und ergriff Jacks Hand. »Sie haben Pater Bell nicht umgebracht, oder? Ich meine … Sie sagen mir doch die Wahrheit?«

Jack sah sie an und versuchte sich an einem Lächeln. »Essie«, bat er, »Sie müssen mir einfach vertrauen.«

Sie hatten schon zwei Drittel des Weges zurückgelegt, als sie eine Gestalt am Gatter stehen sahen. Klein gewachsen und in einem grau-weißen Regenmantel mit Kapuze. Sie hielt die Arme ausgestreckt, als ob sie ihnen den Weg versperren wollte, rührte sich aber nicht vom Fleck und winkte auch nicht. Sie hatte kein Gesicht.

»Das ist ja ein Kind!«, bemerkte Essie ungläubig.

Jack hielt an – und brachte damit auch seine Begleiterin zum Stehen. »Nein, das denke ich nicht«, erwiderte er.

»Aber ja, das ist ein kleines Mädchen … Herrgott, was tut denn ein kleines Mädchen mitten in der Nacht hier draußen?«

»Ich habe sie schon mal gesehen«, erklärte Jack. »Ich habe es schon mal gesehen. Ich weiß nicht genau, worum es sich handelt, aber es muss eine Verbindung zu Quintus Miller geben.«