Выбрать главу

Essie ließ Jacks Hand los und ging weiter auf das Gatter zu. Die grau-weiße Erscheinung bewegte sich nicht, obwohl ihr Umhang wie eine vom Regen durchtränkte Zeitung im Wind flatterte.

»He, junge Dame!«, rief Essie. Sie beschleunigte ihre Schritte, bremste dann aber plötzlich wieder ab. Unsicher rief sie erneut: »Junge Dame?«

Essie hielt inne und starrte die Gestalt irritiert an. Jack war einige Schritte zurückgeblieben. Essie leuchtete ihr mit der Taschenlampe ins Gesicht. Obwohl die Füße des Mädchens in ihre Richtung zeigten und die Knöpfe auf der Vorderseite ihres Mantels erkennbar waren, fiel der Strahl der Maglite auf die Rückseite der Kapuze. Essie warf Jack einen unsicheren Blick zu. »Ihr Kopf ist falsch herum«, stellte sie fest. »Wie kann ihr Kopf …«

Jack warnte sie: »Seien Sie bloß vorsichtig. Ich bin mir nicht sicher, ob es überhaupt ein Kind ist.«

Essie trat einige Schritte näher. »Junge Dame?«, rief sie. »Geht es dir gut, meine Kleine?«

Sie bewegte sich weiter nach vorne, doch dann tauchten zwei nackte Arme aus dem Kiesboden direkt vor ihr auf und umklammerten ihre Knöchel. Sie schrie auf und stürzte zu Boden. Zwei weitere Arme griffen nach ihr. Die Taschenlampe fiel aus der Hand der alten Dame und erlosch.

»Halten Sie durch!«, brüllte Jack und rannte zu ihr herüber. Er trat gegen einen Arm, der sich eilig in die Erde zurückzog. Jack hielt sie an der Hüfte fest und versuchte, sie wieder aufzurichten, doch weitere Hände stießen aus dem Boden und schleiften ihn von Essie weg. Verzweifelt schlug und trat er um sich und schaffte es schließlich, sich zu befreien. Er rollte über das nasse Gras.

Essie schrie vor Schmerzen, als zunächst ein Bein und gleich darauf das zweite unter die Erde gezogen wurden. »Helfen Sie mir! Meine Beine! Oh Gott, so helfen Sie mir doch!«

Zaghaft kam Jack wieder auf die Beine. Doch im gleichen Augenblick konnte er beobachten, wie sich unter dem Kiesweg Furchen bildeten, die sich rasant auf sie zubewegten. Arme tauchten aus dem Boden auf, mindestens fünf oder sechs von ihnen, und stürzten sich begierig und begleitet von einem schleifenden, mahlenden und knirschenden Geräusch auf den sich windenden Körper von Essie.

Indem er den Gliedmaßen auswich, die von allen Seiten versuchten, nach ihm zu greifen, packte er Essie unter den Achseln und hievte sie hoch. Der Widerstand war so gering, dass Jack rückwärts stolperte und sie auf ihn fiel. Sie kreischte laut und fuchtelte panisch mit den Armen, doch sie trat nicht länger um sich. Ihre Beine waren am oberen Ansatz der Schenkel abgetrennt worden. Aus ihren Oberschenkelarterien spritzten dunkle Blutfontänen auf den Boden und auch auf Jack.

Plötzlich rissen noch kräftigere Hände die alte Dame von ihm weg und schleiften sie über den Weg. Jack versuchte, sich aufzurappeln, doch sofort schoss ein weiterer Arm aus dem Boden und umklammerte seinen Hals. Halb würgte die Hand ihn, halb zog sie ihn in den Untergrund.

Er nahm wahr, wie weitere Hände ihn am Bein und an der Kleidung packten.

Sie haben mich! Diesmal haben sie mich! Sie werden mich zermalmen, genau wie Lovelittles Hund, um mich danach wieder auszuspucken.

Jack hörte, wie Essie einen letzten spitzen Schrei ausstieß. Aus den Augenwinkeln beobachtete er, wie sie in den Untergrund gezogen wurde und verschwand. Voller Panik trat er nach den Händen, die versuchten, ihn am Knöchel zu packen. Gleichzeitig griff er nach dem Arm, der sich um seinen Hals gelegt hatte, und zog ihn mit aller Kraft nach unten. Dann biss er zu, so fest er konnte.

Der Arm zuckte und peitschte zurück. Keuchend purzelte Jack aufs Gras, kam stolpernd auf die Füße und rannte wie ein zum Tode Verurteilter auf das Gatter zu. Er hörte, wie der Kies direkt hinter ihm mit einem vernehmlichen Ssssschhhhhh! die Versuche von Quintus Millers Getreuen begleitete, ihn zu erwischen. Ihre Arme ragten wie die Flossen eines Hais aus dem Boden heraus.

Jack quetschte sich durch die Lücke am Rande des Tors. Die Zweige zerkratzten ihm das Gesicht. Er rannte auf sein Auto zu, riss die Tür auf und startete den Motor. Eine Hand schob sich direkt neben dem Fahrersitz aus dem Boden und packte ihn am Fuß. Er rammte ihr das Blech entgegen und spürte, wie sie sich krümmte und ihren Griff lockerte. Fluchend und vor Ekel zitternd, öffnete er die Tür erneut und kickte die Hand nach draußen. Dann trat er das Gaspedal durch. Die Hinterräder des Kombis drehten durch und schlingerten. Dann schoss der Electra nach vorne.

Seine Scheinwerfer tanzten durch den Regen. Vor ihm tauchten Bäume, Böschungen und regennasse Kurven auf. Immer wieder warf er einen Blick in den Rückspiegel, um sicherzugehen, dass ihm niemand folgte. Etwa eine halbe Meile weiter rutschte er in eine tiefe Pfütze hinein. Der Wagen geriet ins Schlingern und wäre beinahe von der Straße abgekommen. Er fuhr an den Randstreifen, stoppte den Wagen und klammerte sich mit ganzer Kraft ans Lenkrad. Wenn doch nur endlich dieses Zittern aufhören würde!

Beruhige dich und versuche, in aller Ruhe nachzudenken. Wenn du in Panik gerätst, wird es niemanden mehr geben, der sich Quintus Miller entgegenstellen kann. Und niemand wird Randy vor seinem grausamen Schicksal bewahren.

Jack schaltete das Radio ein. Sein erster Kontakt mit der heilen Welt an diesem Tag, wenn man es denn so nennen konnte. Eine Frau krähte: »… und all das verdanke ich allein Gott dem Allmächtigen! Gestern noch wäre ich fast an Magenkrebs krepiert und heute schlage ich mir den Bauch schon wieder mit Fleischwurst voll!« Er drehte am Regler, bis er eine Station mit Countrymusik entdeckte. »He got fishing lines strung across the Louisiana River …«

Zehn Minuten später zitterte er zwar immer noch, hatte sich aber halbwegs beruhigt. Jack ließ den Motor wieder an und setzte die Fahrt fort. Er wollte jetzt nur noch nach Hause in sein Bett, um auszuschlafen und danach einen Schlachtplan zu schmieden. Vor lauter Schock konnte er momentan kaum noch einen klaren Gedanken fassen.

»It takes him every bit of a night and a day … to even reach a place where people stay …«

Jack hatte die Kreuzung bei Lodi schon fast erreicht, als eine kleine, grau-weiße Gestalt genau in der Mitte der engen Straße vor ihm auftauchte.

Oh Gott, stieß er ein Stoßgebet aus. Bitte lass es kein Kind sein! Bitte nicht! Er näherte sich der Gestalt mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit. Sie machte keinerlei Anstalten, auszuweichen oder von der Fahrbahn zu verschwinden. Kurz bevor er sie erwischte, dachte er: Vielleicht ist sie taub und hat auch das Licht der Scheinwerfer nicht gesehen? Instinktiv trat er in die Eisen. Die Räder blockierten, die Reifen quietschten und er prallte frontal mit der Gestalt zusammen. Es tat einen ordentlichen Schlag. Die Windschutzscheibe war mit Blut bedeckt. Das Auto kam nach kurzem Schlingern zum Stehen und der Motor wurde abgewürgt.

Auf wackligen Beinen stieg er aus. Auf der Kühlerhaube des Autos lagen tropfende, sehnige, blutige Klumpen und Innereien sowie weitere gelblich glänzende, zermatschte Überreste eines menschlichen Körpers. Sie dampften im schwachen Licht, das von den Scheinwerfern reflektiert wurde. Jack hatte in den letzten zwei Tagen zwar mehr Tote gesehen als je zuvor in seinem Leben, aber das war nun einfach zu viel für ihn. Er hatte fahrlässig ein Kind umgebracht. Er fiel am Straßenrand auf die Knie und beförderte seinen halb verdauten Hummer wieder nach draußen.

Nach ein oder zwei Minuten wischte er sich den Mund und die Augen ab und stand auf. Er musste die Leiche von der Windschutzscheibe herunterbekommen. Im Kofferraum lag ein Pappkarton. Vielleicht konnte er den zu einer primitiven Schaufel umfunktionieren.

Es war also doch ein Kind gewesen und er hatte es überfahren. Es war ein lebendiges Kind gewesen, genau wie Randy.

Jack hob die Heckklappe des Autos an. Im selben Moment konnte er durch das Seitenfenster auf der anderen Seite der Straße einen Schemen erkennen. Etwas Verschwommenes, etwas Grau-Weißes. Stirnrunzelnd ging er um den Kombi herum, um es sich genauer anzusehen.