Jack schlug den Weg zum östlichen Trakt ein. Er war lang, dunkel und beengt, doch da konnte man später sicher immer noch ein paar zusätzliche Fenster oder Lichtschächte einbauen. Zu beiden Seiten gingen zahlreiche cremefarben lackierte Türen ab. Sie waren allesamt verschlossen, doch jede verfügte über ein kleines Guckloch mit beweglichem Messingdeckel als Abdeckung. Jack spähte in ein paar Räume hinein. Es waren nur Betten und Stühle zu sehen. In einem der Zimmer lag sogar nichts weiter als eine Matratze auf dem Boden.
Nach jeder sechsten Tür führte ein kurzer Seitengang zur rückwärtigen Seite des Gebäudes und gab den Blick auf ein Fenster frei. Doch sie waren samt und sonders mit einem schwarzen, rautenförmigen, sehr feinen Stahlnetz gesichert, das kaum Licht durchließ. Außergewöhnlich erschien ihm, dass das Netz nicht nur hineingeschraubt, sondern sogar verschweißt worden war. Schon seltsam, dass der Eigentümer so sicherheitsbewusst war, dass er alle Fenster des oberen Stockwerks sorgsam verriegelte, aber nicht an ein einziges der unteren Fenster gedacht hatte.
Jack lief den ersten Seitengang ab, bis er die Öffnung erreichte. Durch das verstaubte Gitter und das schmierige Glas waren ein Teil des Tennisplatzes, eine Ecke des Schwimmbads und der verwilderte, vernachlässigte Garten zu erkennen. Jack blieb ein paar Minuten am Fenster stehen und spähte hinaus. Es regnete nach wie vor. Der Himmel hatte die Farbe von Naturstein angenommen und das Gras sah giftgrün aus. Jack blickte auf die Uhr. Es war schon 16:30 Uhr. Er würde erst deutlich nach Einbruch der Dunkelheit zu Hause ankommen.
Am Ende des Gangs langte Jack vor einer Doppeltür aus gebeiztem Eichenholz an, die er nicht nur verschlossen vorfand, sondern sogar durch einen zusätzlichen Stahlriegel samt robustem Schloss gesichert. Er rüttelte daran, aber es tat sich nichts. Was auch immer sich im Ostturm befand, die Eigentümer wollten ganz offensichtlich, dass es dort blieb. Vielleicht eine wertvolle Bibliothek oder eine Kunstsammlung? Vielleicht war auch die Decke eingefallen und man wollte, dass niemand dort hineinlief und sich verletzte. Doch zu seiner Linken ging eine weitere Treppe ab. Mitten durch die Dunkelheit führte sie hinauf ins nächste Stockwerk.
Links an der Wand befand sich ein Lichtschalter, den er betätigte, aber natürlich funktionierte er nicht mehr. Vermutlich musste das gesamte Haus für den Hotelbetrieb von oben bis unten neu verkabelt werden.
Auf dem Treppenabsatz erwartete ihn auf halber Höhe ein weiteres Fenster, doch auch dieses war mit einem Stahlnetz gesichert, das an einigen Stellen verbeult war, als ob sich ein massiger Körper mit roher Gewalt dagegengeworfen hatte.
Jack setzte einen Fuß auf die nächste Treppenstufe und zögerte. Es wurde immer später und düsterer. Eine Taschenlampe hatte er auch nicht dabei. Vielleicht sollte er es gut sein lassen und sich auf den Rückweg machen. Bestimmt machte sich Maggie schon Sorgen um ihn und der Truthahn zum Abendessen lief akut Gefahr, auszutrocknen. Bisher war er immer pünktlich nach Hause gekommen oder hatte Maggie bei einer drohenden Verspätung rechtzeitig angerufen, um ihr Bescheid zu geben.
Auf der anderen Seite hatte er noch nie so etwas wie dieses Haus gefunden, nie zuvor der Chance seines Lebens gegenübergestanden. Das war es wert. Was bedeutete schon ein verkochtes Tiefkühlessen im Vergleich zum Schicksal eines Menschen?
Er stapfte die Treppe hinauf. Seine Schuhe schlurften über den Marmor. Ihm war, als höre er erneut ein Geräusch, weshalb er kurz innehielt, den Atem anhielt und lauschte.
Es klang wie etwas Schweres, das kratzte, etwas, das schleifte. Es erinnerte ihn an einen Betonmischer, doch war es sehr leise, sodass er nicht genau ausmachen konnte, aus welcher Richtung es kam. Da war es auch schon wieder verklungen und er konnte noch nicht einmal beschwören, dass er wirklich etwas gehört hatte.
Jack verharrte auf der Stelle und lauschte, bis er vor Anspannung fast platzte, doch der Ton wiederholte sich nicht. Vielleicht das Regenwasser, das durch die Rinnen sickerte, oder Eichhörnchen, die durch die Traufen tollten.
Er setzte seinen Weg fort und bemühte sich, leiser zu sein. Die nächste Etage war sogar noch dunkler und roch noch stärker nach Essig. Wahrscheinlich handelte es sich um Ausscheidungen von Tieren. Er ging davon aus, dass sich das ganze Gebäude in eine Zuflucht für Iltisse, Stinktiere, Eichhörnchen und Vögel verwandelt hatte. Einmal war er Zeuge geworden, wie bei einem Haus am Rande von Madison das Dach abgenommen wurde. Eichhörnchen hatten darin fünf Jahre lang Kobel gebaut und im Gebälk fanden sich überall riesige Stücke zerfetzter Dämmung aus Glaswolle, in denen sich halb verrottete Überreste von verendeten Jungtieren stapelten. Der Geruch nach Verwesung war überwältigend gewesen. Danach war es ihm nie wieder gelungen, Eichhörnchen anzusehen und niedlich zu finden.
Jack warf einen kurzen Blick auf den Gang im zweiten Stock. In einem der Dachfenster hatte er das Gesicht des Kindes gesehen (wenn es sich denn überhaupt um ein kleines Kind und nicht um eine Eule, eine Taube oder die merkwürdige Reflexion einer Fensterscheibe gehandelt hatte). Also kletterte er die Stufen weiter bis ganz nach oben. Auch hier befand sich auf halber Höhe ein Fenster, das ebenfalls mithilfe eines massigen Stahlnetzes gründlich verriegelt worden war.
Ihm fiel eine weitere Merkwürdigkeit auf: Normalerweise wurden Stahlnetze außen an den Fenstern angebracht, damit die Scheibe nicht mithilfe von Steinen eingeworfen werden konnte oder Einbrecher durch Hochklettern an der Fassade ins Innere des Hauses gelangten. Dieses Netz war offensichtlich eher deshalb angebracht worden, damit die Scheiben nicht von innen beschädigt werden konnten.
Aber wer lebte in einem so prächtigen Anwesen und musste dabei die Fenster vor sich selbst schützen?
Er erreichte das oberste Podest. Hier bogen sich die Traufen nach innen und formten so ein Mansardendach. Obwohl sich Jack jetzt an einer der höchsten Stellen des Hauses aufhielt, fühlte er sich dort sogar noch eingeengter als in den unteren Stockwerken. Falls er fliehen musste, lagen drei Treppen vor ihm, ein langer, enger Korridor, gefolgt von einem weiteren Treppenlauf, dann einem weiteren Gang, den er passieren musste, um durch die Lounge wieder in das Gewächshaus zu gelangen.
Er wartete einen Moment ab und zwang sich, ruhig zu bleiben. Noch nie zuvor in seinem Leben hatte er zu klaustrophobischen Anfällen geneigt, doch irgendetwas an diesem Anwesen vermittelte ihm das untrügliche Gefühl, gefangen zu sein. Wahrscheinlich waren es die Fenster, die Tatsache, dass sie alle mit einem Netz gesichert waren. Und die verschlossenen Türen. Er hatte bisher noch kein einziges Zimmer im oberen Bereich unverschlossen vorgefunden.
Jack machte sich auf den Weg durch den Gang, der sich unter dem Dach über die komplette Distanz des Hauses erstreckte. Es war inzwischen ziemlich dunkel geworden und er konnte kaum mehr als ein paar Schritte vor sich etwas erkennen. Jack tastete sich mit den Händen oben an der Wandbekleidung aus gebeiztem Eichenholz vorwärts, um nicht die Orientierung zu verlieren. An jeder Tür hielt er an und versuchte, den Griff herunterzudrücken. Wenn das Kind an einem der Dachfenster gestanden hatte, musste es ja irgendwie in einen der Räume hineingelangt sein. Und solange es keinen Schlüssel besaß, um sich selbst einzuschließen, würde Jack herausfinden, wo es sich versteckte.
»Hallo!«, rief er. »Ist da jemand?«
Jack zerrte an einem weiteren Türgriff. Verschlossen. Er versuchte es beim nächsten. Ebenfalls abgeriegelt.
Jack war schon den halben Gang entlanggelaufen, als er sich einbildete, das kratzende Geräusch wieder zu hören. Er hielt inne und lauschte. Es schien von hinten zu kommen. Ein tiefes, dunkles Geräusch, als wenn jemand einen Sack Zement vor sich herschob. Es schien sich zu nähern.
Alarmiert drehte er sich um. Seine Nackenhaare stellten sich auf. Doch da war niemand. Er konnte ja selbst sehen, dass der Gang absolut leer war.