Blut lief ihm in die Augen, sodass er kaum noch etwas sehen konnte. Er traute sich nicht, sich ins Gesicht zu fassen, um es wegzuwischen, doch wenn er mit seinem linken Auge blinzelte, gelang es ihm, sich grob zu orientieren. Sein rechtes Augenlid hing nutzlos herab.
Er entdeckte seinen hellgrünen Volkswagen, der auf der anderen Seite der Tiefgarage geparkt war. Arnold schleppte sich darauf zu und bemühte sich, nicht darüber nachzudenken, was gerade geschehen war. Er versuchte einfach nur, dort anzukommen. Rette dich ans Steuer und du bist in Sicherheit!
Ihm war eiskalt und sein Körper schien doppelt so viel zu wiegen wie sonst. Immer wenn er mit dem linken Auge blinzelte, floss ein frischer Schwall Blut. Er versuchte, sich an die Worte aus einer seiner Lieblingsopern zu erinnern, Koanga von Frederick Delius.
Arnold war nur noch knapp zwei Meter von seinem Auto entfernt, als der Betonboden unter ihm plötzlich aufzugehen schien wie ein grauer Hefezopf. Ein Erdbeben, flüsterte sein Verstand. Doch dann fühlte er raue, kräftige Hände, die ihn in eine schreckliche Umarmung schlossen, und Brüste, die sich gegen seinen Oberkörper pressten. Er blinzelte mit seinem linken Auge und sah, dass sie ihn anlächelte – ein verrücktes, triumphierendes, furchteinflößendes Lächeln. Ihr Gesicht war mit dem Öl parkender Autos und Arnolds Blut besudelt.
Lass uns Liebe machen, verlangte sie. Komm schon, Süßer, lass uns Liebe machen.
Sie küsste seinen rauen, lippenlosen Mund und schabte ihre Betonzähne gegen seine. Dann verschwand sie wie ein Taucher mit einer ruckartigen Bewegung im Boden und zog ihn hinter sich her.
Eine Sekunde lang verspürte Arnold Schmerzen, die alles übertrafen, was er kannte. Es schien, als ob er bei lebendigem Leib in eine Batterie von Fleischwölfen geraten war. Als er zerfetzt, verstümmelt und entzweigerissen wurde, wunderte er sich noch, dass er so lange bei Bewusstsein blieb, wo doch sein Körper nur noch aus Fett, Schleim, zertrümmerten Knochen und zermahlenen Sehnen bestand. Er grübelte darüber nach, bis er starb. Und er starb unter höllischen Qualen.
Als ihn die Gnade des Todes ereilt hatte, herrschte wieder Schweigen in der Tiefgarage. Kaum hörbar entfernte sich das Sssssschhhhhh – sssssschhhhhh – sssssschhhh von menschlichem Fleisch, das durch feste Wände geschleppt wurde.
Officer Gene Spanier von der Milwaukee Police fuhr um 02:30 Uhr am nächsten Morgen von der Arbeit nach Hause in Richtung Norden, als er auf der Lisbon Avenue einen Betrunkenen zu sehen glaubte, der auf dem Gehsteig lag. Langsam lenkte er sein Auto an den Straßenrand, drehte sich in seinem Sitz herum und warf einen Blick zurück, während er den Motor im Leerlauf ließ. Entweder ein Betrunkener oder eine Leiche, soweit er das beurteilen konnte. Doch es war niemand als vermisst gemeldet worden. Obwohl die Anwohner ohne Hemmungen über Betrunkene hinwegsteigen würden, wollten sie doch keine Leichen auf ihrem schönen Trottoir liegen haben.
Officer Spanier war unheimlich müde. Er war um elf Uhr vormittags zu seiner Schicht angetreten und wollte nur noch ins Bett. Doch da war dieser Mensch, der mit dem Gesicht nach unten auf dem Bürgersteig lag. Seine Arme lagen eng am Körper. Was, wenn er wirklich tot war und Officer Spanier einfach weiterfuhr?
Er stieß ein zynisches Stoßgebet gen Himmel aus. Oh Herr, du schenkst Bankräubern Jachten und Zuhältern Cadillacs. Warum bleiben für mich immer nur Pommes und abgestandener Kaffee übrig? Amen. Er setzte mit seinem klapprigen, acht Jahre alten Oldsmobile ein Stück zurück, bis es genau neben der Gestalt zum Stehen kam, und begutachtete sie durch das verschlossene Fenster.
War sie betrunken oder tot? Das ließ sich von hier aus kaum beurteilen. Er sah nicht, ob sie atmete, und ihr Gesicht wies eine sehr merkwürdige Färbung auf – es war fast genauso grau wie der Beton, auf dem sie lag. Ihr Mantel hatte ebenfalls die Farbe von Beton.
Es handelte sich um einen stämmigen Mann, vielleicht 35 Jahre alt, möglicherweise einen Polen oder Deutschen.
Officer Spanier fuhr noch ein Stück weiter zurück und bemerkte, dass der Mann keine Schuhe trug. Seine Füße? Auch grau wie Beton.
Ein Betrunkener, was denn sonst? Kein Blut, keine Kopfverletzung zu sehen. Aber sein Gesicht wirkte aschfahl und sein Brustkorb schien sich nicht zu heben und zu senken, wenn er atmete. Und selbst wenn er nicht tot, sondern nur betrunken war, konnte er immer noch eine Alkoholvergiftung haben. Officer Spanier appellierte an sich selbst, auszusteigen, um dem Mann das Leben zu retten.
Wenn man überhaupt von Leben retten sprechen kann, wenn es um einen Mann geht, der um 02:30 Uhr morgens sturzbetrunken auf der Lisbon Avenue liegt, fügte er in Gedanken sarkastisch hinzu. Ihm hatte das Gleichnis vom barmherzigen Samariter noch nie gefallen. Den meisten Polizisten ging es ganz ähnlich. In der Regel wollten die Leute, die sie retteten, gar nicht gerettet werden – oder aber sie waren es einfach nicht wert. Landstreicher, Junkies, Möchtegern-Selbstmörder, arbeitslose Brauereiangestellte, verrückte Polacken.
Officer Spanier war 39 Jahre und 51 Wochen alt und hatte gerade seine zweite Scheidung hinter sich gebracht. Er wachte jeden Morgen zwei Stunden zu früh auf, lag dann lange wach und grübelte über sein Leben nach. Nächste Woche wurde er 40. Er lebte in einer Zweiraumwohnung. Über ihm wohnte ein Sopran-Saxofonist und gegenüber eine Prostituierte. Der Sopran-Saxofonist spielte besonders erbärmliche Versionen von Roland-Kirk-Nummern und die Prostituierte trug enge, weiße, ganz kurze Shorts, die ihr wie ein scharfes Messer in die Beine schnitten. Beide waren ihm herzlich egal. Er trank viel Jack Daniel’s, wenn er nicht im Dienst war, und amüsierte sich großartig über Miami Vice. Klar, denn weder ein weißer Armani-Anzug noch ein roter Ferrari Daytona waren zwangsläufig nötig, um ein glücklicher Cop zu sein. Man brauchte einfach nur eine tolle Ehefrau, die einen nicht nervte, nicht das Essen anbrennen ließ und sich nicht angewidert wegdrehte, wenn man zu ihr ins Bett stieg und aussah wie Frankenstein persönlich, der auf die Three Stooges trifft. Eine Frau, die nicht versuchte, dich mit einem Nachthemd aus dem Repertoire einer alten Jungfer ins Zölibat zu treiben. Außerdem brauchte kein Mensch diese verdammten Milwaukee-Winter mit Wind, der wie eiskalte, in Wodka eingelegte Rasierklingen über den See blies.
Grunzend und äußerst widerwillig hievte sich Officer Spanier aus dem Fahrersitz. Seit seiner Scheidung hatte er knapp sieben Kilo zugelegt und sich einen Schnurrbart wie Teddy Roosevelt stehen lassen. Sein größter Held war Burt Reynolds. Er besaß ein signiertes Foto, auf dem er Arm in Arm mit dem Hollywood-Star in den Universal Studios stand. Für Gene. Mit besten Schnörkeln, Burt Reynolds. Er hatte bis heute keine Ahnung, was es mit den Schnörkeln auf sich hatte.
Er ging neben der ausgestreckt daliegenden Gestalt in die Hocke. Sie stank nicht nach Alkohol. Sie roch nach überhaupt nichts. Betrunkene mieften normalerweise wie ein Schnapsladen und Leichen sonderten einen Geruch nach Scheiße ab, weil die Schließmuskelfunktion aussetzte. Aber dieser Mann da roch nach gar nichts. Officer Spanier betrachtete ihn eine Weile mit professionellem Desinteresse, schniefte dann und sagte: »Hey Junge, schläfst du oder was?«
Die Gestalt auf dem Bürgersteig regte sich nicht. Nicht betrunken, nicht tot, sondern völlig leblos.
Officer Spanier streckte vorsichtig die Hand aus und berührte den Mann am Arm. Du liebe Güte, er bestand aus Beton, war eine verfickte Statue. Jemand hatte eine Statue auf den Gehsteig gelegt.
Er drückte dagegen, doch das blieb ohne Wirkung. Er konnte nicht mal seine Finger darunterbekommen. Das Ding schien untrennbar mit dem Gehsteig verbunden. Herrgott! Jemand hatte ein Stück Straßenpflaster in eine Skulptur umgeformt. Da konnte locker jemand drüberfallen und sich sämtliche Knochen brechen. Was für eine verrückte Sache! Klar, in Kalifornien war so etwas fast schon an der Tagesordnung, aber hier in Milwaukee?