Doch der Künstler beherrschte sein Handwerk. Man musste sie schon aus nächster Nähe betrachten, um überhaupt zu erkennen, dass sie aus Beton bestand. Die Detailgenauigkeit war verblüffend. Wer auch immer dahintersteckte, konnte ein Vermögen machen, wenn er Gummipuppen als Zeitvertreib für geschiedene Cops herstellte.
Das Problem war, dass Officer Spanier zwangsläufig einen Bericht über seine Entdeckung schreiben musste. Und er musste nach dem Verantwortlichen fahnden und ihn verhaften lassen, sofern das Anfertigen von Skulpturen aus Gehwegplatten tatsächlich eine Straftat darstellte. Vielleicht konnte man es als Vandalismus oder Erregung öffentlichen Ärgernisses hindrehen.
Eventuell konnte er sich die ganze Mehrarbeit auch sparen, wenn er die Skulptur einfach verschwinden ließ. Er musste einfach nur die Asphaltdecke mit dem spitzen Ende seines Wagenhebers rundherum aufreißen und sie dann wegschaffen. Dann reichte es, das verdammte Ding in den nächsten Tümpel zu werfen und so zu tun, als ob es nie existiert hätte.
Er ging zurück zu seinem Oldsmobile, öffnete den Kofferraum und tastete unter der Abdeckung nach dem Werkzeug. Hatte er da nicht gerade ein Schaben gehört? Officer Spanier hielt inne und sah sich um, doch die Lisbon Avenue lag völlig verlassen da. Nichts, dachte er. Hast wohl Angst im Dunkeln.
Der Polizeibeamte drehte sich wieder zur Skulptur um. Ich kann es einfach nicht glauben. Ich sollte längst zu Hause im Bett liegen. Doch stattdessen bin ich hier und versuche, die Plastik eines Menschen vom Gehsteig zu schaben. Ich hätte doch auf Onkel Albie hören und den Wohnwagenhandel übernehmen sollen. Zumindest hätte ich damit mehr Geld verdient. Und ich würde nicht um drei Uhr morgens auf einem verdammten Trottoir kauern und mich mit der Arbeit eines verrückten Künstlers herumschlagen.
Etwas außer Atem bückte sich Officer Spanier und setzte das meißelförmige Ende des Wagenhebers passgenau an der Stelle an, wo die Wange der Statue den Boden berührte. Gerade als er mit der Arbeit beginnen wollte, öffnete sie die Augen und starrte ihn an. Officer Spanier ließ das improvisierte Werkzeug mit einem lauten Scheppern auf den Boden donnern. Er stand hektisch auf und wischte sich nervös die Hände an seiner Jeans ab.
»Du hast dich bewegt«, schimpfte er mit der Skulptur. »Du hast die Augen geöffnet.«
Die Statue lächelte. Der Schein trügt. Du bist ein Polizist. Du solltest das wissen.
Officer Spanier griff nach dem Wagenheber und fuchtelte damit in der Luft herum. »Ich warne Sie. Was auch immer Sie sind, ich werde Sie verhaften. Ich werde Ihnen Ihre Rechte vorlesen.«
Ich kenne meine Rechte. Awen, der Bedeutendste von allen, hat sie mir verliehen.
»Stehen Sie einfach auf, Mister. Stehen Sie ganz langsam auf. Hände vor den Körper, keine falsche Bewegung.«
Ich kann nicht aufstehen. Noch nicht.
»Aufstehen habe ich gesagt!«, blaffte Officer Spanier.
Das ist unmöglich. Der Beton besteht aus mir und ich bestehe aus Beton.
»Wenn Sie nicht freiwillig aufstehen, Mister, dann werde ich Sie hochziehen.«
Officer Spanier packte den Skulpturenmann am Kragen und versuchte, ihn auf die Beine zu stellen. Doch – »Scheiße!« – es war unmöglich. Entweder war der Fremde sehr schwer oder Officer Spanier nach 16 Stunden im Dienst einfach zu erschöpft, um ihn hochzuheben. Oder vielleicht war der Skulpturenmann tatsächlich ein Teil des Bürgersteigs.
Was zum Teufel sollte er jetzt tun?
Gib mir deine Hand!, befahl ihm der Skulpturenmann. Seine Stimme klang belegt und undeutlich, als ob er eine Handvoll feinen Sand im Mund hätte.
Officer Spanier nahm den Wagenheber in die linke Hand und bot der merkwürdigen Erscheinung seine rechte an. Der Skulpturenmann griff zu und hielt ihn fest. Sehr fest. In einem eisernen Handgriff.
»Okay, Mister, hoch jetzt!«, verlangte Officer Spanier.
Nein, mein Freund. Du kommst runter.
Officer Spanier zog an dem Fremden. Doch der war außergewöhnlich stark. Der Polizist hatte so etwas noch nie erlebt. Er versuchte, seine Hand loszureißen, doch es gelang ihm nicht.
»Hey! Lassen Sie meine …!«
Doch der Skulpturenmann drehte sich plötzlich lächelnd im Gehsteig herum, tauchte in den Beton hinab und verschwand. Officer Spanier schrie noch »Halt!«, doch dann wurde er auch in den Boden hineingerissen.
Officer Spanier war an einem Februarmorgen in den Lake Michigan gesprungen, um eine Ertrinkende zu retten. Er hatte sich durch lodernde Flammen gekämpft, um zwei kleine Kinder aus einer brennenden Wohnung zu retten. Er war durch ein Spiegelglasfenster gesprungen, um nicht von einem verrückten, drogenabhängigen Polacken mit einer abgesägten Schrotflinte erschossen zu werden. Doch niemals hätte er damit gerechnet, mit dem Kopf voran in den Gehsteig auf der Lisbon Avenue gezogen zu werden. Er wurde mit einer solchen Urgewalt in den Boden geschmettert, dass es ihm vorkam, als würde seine Seele in ihre Bestandteile zerspringen.
Es war absolut ausgeschlossen, dass ein menschlicher Körper tatsächlich in Beton eindrang, und doch schien genau das gerade zu passieren. Der Skulpturenmann zog ihn tief in den grauen Untergrund herein, drohte seine Haut auseinanderzureißen, Arterien zu durchtrennen und seinen ganzen Körper zu Brei zu zermalmen.
Er fühlte den Tod herannahen, als würde die Objektivabdeckung auf die Kamera seines Lebens gesteckt. Ich sterbe. Ich kann es nicht glauben. Das ist das Ende meines Lebens. Er glaubte zu schreien, aber wahrscheinlich spielte ihm sein Gehirn nur einen Streich, während es in tausend Stücke zerbröselte.
Officer Spanier verschwand im Gehsteig wie ein Taucher im Swimmingpool. Die Lisbon Avenue blieb still und verlassen zurück. Die Tür seines zurückgelassenen Streifenwagens stand offen und der Schlüssel steckte noch im Zündschloss.
Nach etwa einer Viertelstunde zeichnete sich ein nasser, dunkler Fleck auf dem Bürgersteig ab, gefolgt von Rissen im Beton.
Der Fleck wurde größer und größer. Dann quoll plötzlich eine dickflüssige Tomatensuppe aus dem Boden, die sich immer weiter ausbreitete. Bei der Suppe handelte es sich um die Überbleibsel von Officer Spanier – sein Fleisch, Blut und seine zerschmetterten Knochen hatten sich verflüssigt. Er floss über den Gehsteig in den Rinnstein und tropfte dann in die Kanalisation hinein.
In den Morgenstunden öffnete eine 19-jährige Psychologiestudentin namens Rhoda Greenberg im Zimmer 516 des Hyatt Regency auf der Grand Avenue von Milwaukee die Augen. Sie hob den Kopf vom Kissen, betrachtete stirnrunzelnd das Fenster und fragte sich, wo um alles in der Welt sie sich befand. Da hörte sie ein Schnarchen. Mit der Sorgfalt eines Leichenbestatters hob sie die verknäulte Decke an und betrachtete den grauhaarigen Mann, der tief und fest neben ihr schlief. Da kehrte die Erinnerung zurück.
Du hast es wieder getan, Rhoda, du Schlampe.
Müde schob sie die Decke zur Seite und kletterte nackt aus dem Bett. Sie ging zum Fenster und kratzte sich gähnend an ihrem schwarzen Lockenschopf. Geräuschvoll zog sie die Vorhänge zurück. Draußen lag die Innenstadt von Milwaukee geisterhaft im Nebel des Lake Michigan. Der Glockenturm des Rathauses mit seinem charakteristischen grünen Dach wirkte durch den Schleier wie der Turm einer osteuropäischen Metropole. Die Turmuhr verriet ihr, dass es erst 06:05 Uhr war. Sie hatte eine mächtige Rotweinfahne und ihr Kopf dröhnte wie beim Spontanbesuch eines Bienenschwarms.
Rhoda schaute zurück in Richtung Bett. Ein fetter Arm, so weiß wie Fleischwurst und von einer dünnen grauen Haarschicht überzogen, lugte unter der Decke hervor. Eine Seiko-Uhr aus Edelstahl protzte am Gelenk. Am Ringfinger steckte ein Ehering. Rhoda wusste nicht, ob sie sich vor sich selbst ekeln sollte oder nicht – und wie stark. Sie hatte etwas Ähnliches schon so oft getan, dass ihr Schuldgefühl relativ abgestumpft war. Und sie würde es wieder tun, sobald sich die Gelegenheit ergab, keine Frage.