Rhoda verharrte lange im perlfarbenen Lichtschein am Fenster. Man konnte sie nicht unbedingt schön nennen. In ihrem Gesicht prangte eine viel zu große Hakennase und ihre Lippen waren extrem wulstig, ihr Kinn ähnlich schwach ausgeprägt wie bei Popeyes Olivia. Zu Hause hatte sie ein paar Fotos ihrer Großmutter aus Breslau aus jungen Tagen gesehen. Die Ähnlichkeit war verblüffend.
Doch sie besaß einen spektakulären Körper. Ihre Brüste waren riesig, rund und fest und ihre Hüfte so schmal, dass die meisten Männer sie mit den Händen umschließen konnten. Ihre langen Beine mit schlanken Schenkeln und wohlgeformten Knöcheln kamen der Perfektion nahe.
Mit 13 fiel ihr zum ersten Mal auf, dass die Männer geil auf sie waren. Sie wollten zwar nicht mit ihr gesehen werden und sie beispielsweise zum Tanzen ausführen, weil sie ihnen zu gewöhnlich, hasenzahnig und kraushaarig erschien. Außerdem klang es wie das Schreien eines Esels, wenn sie lachte. Doch die Männer gaben alles dafür, ihre Brüste berühren und die Hände unter ihren Rock schieben zu dürfen. Sie hatte sogar ihren Vater einmal dabei ertappt, wie er mit erschreckender Faszination durch die Badezimmertür gestiert hatte, als sie einen Spaltbreit offenstand. Eine Hand lag auf seinem Herzen, Whiskey vernebelte ihm den Verstand und seine Augen waren blutunterlaufen.
Rhoda sehnte sich nach Freundschaften, Partnerschaften, nach Zuneigung, Liebe und Leidenschaft, genau wie jedes andere Mädchen auch. Nur weil sie nicht das Gesicht einer Ballkönigin besaß, hieß das noch lange nicht, dass sie keine emotionalen Bedürfnisse hatte. Doch wenn Männer Rhoda ansahen, dann sahen sie ihr nie ins Gesicht. Und nicht ein einziges Mal hatte man sie auf eine Party mitgenommen. Mit 15 hatte sie einen Entschluss gefasst: Wenn die Männer ihr nicht das geben wollten, was sie brauchte, musste sie sich eben von ihnen holen, was sie konnte.
Sie war ganz offen hinter jedem einzelnen Jungen aus ihrer Abschlussklasse in der High School her gewesen (und hatte sie auch alle ins Bett bekommen), bis auf zwei, die schwul waren. Selbst drei ihrer Lehrer landeten mit ihr im Bett. Jetzt, wo sie an der University of Wisconsin in Milwaukee Psychologie studierte, hatte sie es sich zur Gewohnheit gemacht, ihre wenigen freien Abende im Hyatt oder im Sheraton zu verbringen oder in den Läden auf der Grand Avenue einsame Geschäftsleute aufzugabeln. Wenn es dort Kosmetika, Schmuck oder auch Dessous zu kaufen gab, waren sie eine gute Anlaufstelle. Denn dort machten sich die Männer ungeschickt auf die Suche nach Geschenken, die sie ihren Frauen zu Hause mitbringen konnten.
Rhoda gab sich stets nett und hilfsbereit. »Wissen Sie, was ich ihr kaufen würde, wenn ich Sie wäre …?«
Doch in den Hotelzimmern machte sie sich einen Spaß daraus, sie zu demütigen. Rhoda ließ die Männer kriechen. Sie nannte sie Abschaum, gab ihnen Schimpfnamen und ließ sie die widerwärtigsten Dinge tun, die ihr in den Sinn kamen. Und das Seltsame war: Sie taten immer, was sie von ihnen verlangte. Einige von ihnen bewunderten sie sogar so sehr, dass sie Rhoda als stets verfügbarer Domina ein eigenes Apartment finanzieren wollten.
Aber sie lehnte solche Angebote immer ab. Sie wollte niemandem gehören. Dennoch verdiente sie Tausende von Dollar und erwartete von jedem Mann ein teures Geschenk. Schmuck, Parfüm oder ein Kleid.
Rhoda trat vom Fenster zurück und ging ins Badezimmer, ohne den schlafenden Mann auf dem Bett eines weiteren Blickes zu würdigen. Sie wusste noch nicht einmal mehr, wie er hieß, sondern erinnerte sich nur an seinen kleinen, haarigen Körper und daran, dass er in Tränen ausgebrochen war, nachdem sie mit dem Sex fertig gewesen waren. Als »Liebe machen« betrachtete sie das, was sie tat, nie.
Rhoda schaltete das Licht im Badezimmer ein und sah sich im Spiegel an.
Unter ihren Augen lagen dunkle Schatten. Sie hatte an diesem Wochenende einiges an Schlaf nachzuholen. Rhoda putzte sich die Zähne, spuckte aus und putzte sie gleich noch mal.
Als sie sich den Mund ausspülte, hörte sie hinter sich ein Geräusch, als ob jemand gegen den Duschvorhang strich. Sssch.
Sie schaute in den Spiegel, aber niemand tauchte in der Reflexion hinter ihr auf. Sie ließ kaltes Wasser ins Waschbecken laufen, um ihren geschwollenen Augen etwas Entspannung zu gönnen. Sie verfluchte sich für ihre Vorliebe für Rotwein. Sie verschaffte ihr immer einen Kater, der sie den ganzen Tag über lahmlegte.
Dann hörte sie das Geräusch wieder. Diesmal kam es langsamer und dauerte länger an. Sssschh – sssschhhhh.
Stirnrunzelnd drehte Rhoda sich um. Im Bad war niemand zu sehen. Der Duschvorhang hatte sich nicht bewegt. Sie ging zur Tür und warf einen Blick ins Schlafzimmer, doch der haarige Zwerg schlief noch immer tief und fest – und schnarchte laut und vernehmlich.
Ach, was soll’s? Vielleicht sind es die Leitungen, dachte sie. Du weißt ja, wie es in diesen Hotels ist. Immer wenn jemand aufs Klo geht, bekommt es der Nachbar in allen dreckigen Details mit.
Rhoda wusch sich das Gesicht, trocknete sich ab und öffnete dann ihren Schminkbeutel. Sie ging ziemlich großzügig mit Make-up um. Falsche Wimpern und dunkelroten Lippenstift mochte sie am liebsten. Besser man sah wie eine Nutte aus als wie ein Mauerblümchen.
Sie brachte Kleber an einer der falschen Wimpern an. Bei der Erinnerung an einen der Kerle, der diese mal im Regal entdeckt hatte, musste sie schmunzeln. Der hatte sie nämlich in Toilettenpapier zerquetscht und sie in der Toilette runtergespült, weil er sie für Tausendfüßler gehalten hatte.
Sie lächelte immer noch in sich hinein, als das Wasser im Waschbecken plötzlich von selbst abfloss und im Abfluss gurgelte.
Rhoda rüttelte am Hebel, der den Stöpsel fixierte. Dann ließ sie erneut Wasser ein, doch wieder floss es sofort ab. Sie sah sich den Verschluss genauer an. Möglicherweise war er ja undicht? Sie versuchte immer noch herauszufinden, was mit dem Stöpsel nicht stimmte, als sie bemerkte, dass sich ihre Haare im Abfluss verfangen hatten. Verdammt, murmelte sie und versuchte, ihren Kopf zu heben, doch ihr langes, lockiges Haar steckte fest.
Vorsichtig versuchte sie es zu lösen. Doch je mehr sie versuchte, ihre Strähnen freizubekommen, desto mehr steckten sie fest. Ihr Kopf wurde inzwischen ziemlich schmerzhaft in das Waschbecken hinuntergezogen, ihre Stirn gegen die kalte Keramik gepresst.
»Verdammt noch mal«, fluchte Rhoda. Sie war nicht länger nur ungeduldig, sondern stand kurz davor, in Panik zu geraten. Sie wollte ihr Haar auf keinen Fall abschneiden, es war schließlich ihr Kapital. Außerdem begriff sie nach wie vor nicht, wie sie sich so hoffnungslos verheddert hatte.
»Hey!«, rief sie und versuchte, den haarigen Zwerg drüben im Schlafzimmer aufzuwecken. »Hey, hilf mir mal hier, ja? Hey!« Sie hätte sich gerne an seinen Namen erinnert. So was wie Herman oder Harry oder Herbert.
»Hey, Herman!«, rief sie. »Herman, ich hänge fest! Herman, hol mich hier raus! Bitte!«
Doch kaum hatte sie das gesagt, wurde ihr Haar mit roher Gewalt ins Abflussrohr gezerrt, als ob da drin jemand wäre, der sämtliche Kräfte mobilisierte und daran zog. Rhoda knallte mit der Stirn gegen das Waschbecken und schrie jetzt vor Angst. »Hilfe! Hilfe! Um Gottes willen, Herman, hilf mir!«
Rhodas Kopf wurde immer wieder gegen das Waschbecken geschlagen. Sie fühlte, wie ihre Kopfhaut bis aufs Äußerste gespannt und von ihrem Schädel weggezogen wurde. Sie schrie immer und immer wieder, doch das erbarmungslose Ziehen wollte einfach nicht aufhören.