»Was zum Teufel ist los, warum brüllst du denn so?«, hörte sie die Stimme des haarigen Zwergs Herman ganz in ihrer Nähe. Sie öffnete die Augen und sah sein besorgtes Gesicht falsch herum.
»Ich stecke fest, mein Haar ist eingeklemmt. Komm her und mach mich los!«
Herman packte sie am Kopf und versuchte, sie nach oben zu ziehen. Rhoda schrie noch schriller, woraufhin er sie wieder losließ.
»Nicht so, du verdammter Idiot!«, meckerte sie mit Tränen in den Augen. »Der Stöpsel, hol den Stöpsel raus!«
Herman kämpfte eine Weile damit, rüttelte am Hebel wie ein Kind, das Zug fahren spielt, doch dann keuchte er. »Es geht nicht. Dein Haar steckt zu fest, ich bekomme es einfach nicht los.«
»Scheiße, ich werde nach unten gezogen!«, schluchzte Rhoda. Sie sah auf Hermans großen, weißen, fetten Arsch. Unentschlossen öffnete und schloss er seine Faust. »Vielleicht sollte ich sie abschneiden?«, schlug er verunsichert vor. »Soll ich eine Schere holen?«
»Befrei mich einfach!«, flehte sie ihn an. Ihr Haar wurde mit solcher Kraft in den Abfluss gezerrt, dass es ihr vorkam, als würde es an den Wurzeln herausgerissen. Der Schmerz war so überwältigend, dass sie ihn nicht länger ertragen konnte. Sie fing wieder an zu schreien. Blind und sinnlos brüllte sie die kalte Keramik des Waschbeckens an.
Herman wich zurück. »Du!«, ließ er sich vernehmen. »Ich geh mal besser und hol Hilfe. Hältst du noch einen Moment durch? Geht das?«
Er eilte zurück ins Schlafzimmer und zog sich an. »Verdammt.« Wie ein Berserker durchstöberte er das Zimmer auf der Suche nach seinem Hemd und seinen Socken. »Was zum Teufel habe ich mit meiner Krawatte gemacht? Herrgott, hör auf zu schreien, meine Güte.«
Rhoda holte zitternd tief Luft und wollte erneut brüllen. Doch diesmal drang kein Laut aus ihrer Kehle. Zwei glänzend weiße Hände schälten sich aus dem Waschbecken, packten ihren Kopf und zogen ihn direkt in das weiße Material hinein.
Herman erschien wieder in der offenen Badezimmertür. Er war halb angezogen und seine Miene wirkte wie versteinert. Er sah Rhodas nackten, über das Waschbecken gebeugten Körper, der zitterte, als ob sie auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet würde. Das Becken selbst war randvoll gefüllt mit Blut, das teilweise über den Rand hinausschwappte.
Herman starrte Rhoda lange an. Er hatte noch nie gesehen, wie jemand getötet wurde. Er merkte nicht einmal, dass Rhoda auf eine Art starb, die gegen sämtliche Naturgesetze verstieß. Letzte Nacht hatte sie ihn gezwungen, auf dem Teppich entlangzukriechen. Nun ging sie vor ihm in die Knie. Ihre Arme und Beine waren steif vor Schmerz und das Leben wich langsam, aber unaufhaltsam aus ihrem Körper.
Herman fühlte eine perverse sexuelle Erregung in sich aufsteigen. Sie war nackt, sie wurde gerade getötet und er konnte einfach nicht wegschauen.
Schließlich packte er den Knauf der Badezimmertür und zog sie mit einer seltsamen kleinen Verbeugung zu. Herman atmete tief durch. Dann nahm er ein Taschentuch und wischte den Griff ab. Er hatte vermutlich im gesamten Zimmer Tausende von Fingerabdrücken hinterlassen, aber irgendwie vermittelte ihm diese Tat ein Gefühl von Sicherheit. Zumindest konnte ihm so niemand beweisen, dass er sie beim Sterben beobachtet hatte. Zitternd, schweißnass und kreidebleich ging er zurück ins Schlafzimmer, um seinen Koffer zu packen.
Als er fertig war, ging Herman zurück zur Badezimmertür und lauschte. Nur ein langsames, stetes Tropfen war zu hören. Ob er einen letzten Blick riskieren sollte? Herman entschloss sich dagegen. Wenn jemand ihn fragte, würde er leugnen, das Mädchen je gesehen zu haben – sie musste in sein Hotelzimmer eingebrochen sein, nachdem er schon ausgecheckt hatte, und dort Selbstmord begangen haben. Ganz offensichtlich handelte es sich um Selbstmord. Sie hatte sich im Waschbecken die Kehle aufgeschlitzt.
Herman wusste, dass seine Frau Marcia ihm Rückendeckung geben würde. Er konnte ihre Reaktion fast hören. »In 37 Jahren Ehe war mein Herman nicht ein einziges Mal untreu.« Bei diesen Worten würde sie bestätigend mit ihrer grauen Dauerwelle nicken. Er schwitzte wie ein Schwein und kam so schlecht zu Atem, dass er sich gegen die Wand lehnen und immer wieder ins Gedächtnis rufen musste: Atmen, atmen, verdammt noch mal, atmen.
Irgendwann schaffte er es, nicht mehr zu keuchen. Alles okay so weit, jetzt musst du einfach nur noch die Fläschchen aus der Minibar an der Rezeption bezahlen, lächeln und das Flugzeug zurück nach Indianapolis nehmen. Und keiner wird dir je beweisen können, dass du irgendwas mit der Sache zu tun hattest.
Er hievte seinen karierten Koffer hoch und wandte sich zur Tür.
Doch dort wartete eine böse Überraschung auf ihn, die ihn in der Bewegung erstarren ließ. Noch nie in seinem Leben hatte er eine solche Angst verspürt.
Die Tür selbst hatte sich gewölbt und die Form eines kleinen muskulösen Mannes angenommen. Dieser starrte ihn grinsend an. Die braungoldenen Muster des Holzfurniers zeichneten Streifen wie bei einer Kriegsbemalung auf sein Gesicht.
Herman stand regungslos da, starrte den Mann in der Tür an und wusste nicht, was er tun sollte. Er traute sich nicht, die Hand nach der Klinke auszustrecken.
»Was wollen Sie?«, flüsterte er schließlich.
Der Mann in der Tür grinste immer noch und glotzte ihn weiter an. Etwas an dem Lächeln ließ Herman keinen Moment daran zweifeln, dass er dieses Hotel nicht mehr lebend verlassen würde.
Es passierte überall in Milwaukee, Wauwatosa, Cudahy und Whitefish Bay. Auf der East Kilbourn Avenue fand man dreijährige Zwillinge, die offenbar von ihrer Mutter beim Shoppen zurückgelassen wurden, in ihrem Buggy. Auf der North Sixth Street verschwand ein bekannter Bierbrauer aus dem Auto, während er vor einer Ampel stand. Es gab keine Hinweise auf seinen Verbleib, nur den merkwürdigen Umstand, dass sämtliche Ledersitze der Limousine aufgeschlitzt waren.
Genau neben den Gewächshaus-Kuppeln des Mitchell Park Horticultural Conservatory wurden drei Gäste einer Hochzeitsgesellschaft vor Dutzenden völlig entsetzter, jedoch hilfloser Zeugen in den Boden hinabgezogen, während sie für ein Erinnerungsfoto posierten.
Ein 32 Jahre alter Architekt wollte gerade die Toilette im Mader’s Restaurant verlassen, tauchte aber nie wieder auf.
Jack schaute den ganzen Tag Nachrichten und versuchte zu zählen, wie viele Leute verschwanden. Am Nachmittag war die Zahl deutlich zweistellig und er konnte den Berichten entnehmen, dass sich in Milwaukee eine Panik ausbreitete. Gouverneur Earl hatte für die Region bereits den Notstand ausgerufen und die Nationalgarde alarmiert.
»Aber in Wahrheit wissen wir überhaupt nicht, womit wir es hier zu tun haben … ob die Fälle plötzlichen Verschwindens auf ein Naturphänomen, eine Art Erdbeben, zurückzuführen sind … oder ob diese Menschen einer kriminellen Verschwörung zum Opfer fielen …«
Jack sah Geoff Summers an.
Der zuckte nur die Achseln.
»Sollen wir es ihnen sagen?«, wollte Jack wissen.
»Meinst du, dass sie uns glauben würden?«, erwiderte Geoff.
»Ganz bestimmt nicht.«
»Dann sollten wir es besser für uns behalten und nach einer Möglichkeit suchen, diese Irren aufzuhalten, bevor es zu spät ist. Ich regle bestimmte Angelegenheiten am liebsten persönlich. Sobald man es über die offiziellen Kanäle versucht, ist man verloren.«
Geoff hatte ein kleines Hinterhaus in einem Vorort von Madison aufgetrieben, dessen Veranda mit Flaschenkürbissen überwuchert war. Darauf stand ein Schaukelstuhl, in direkter Umgebung wartete ein verwahrloster, leerer Parkplatz seit Jahren auf den nächsten Besucher. Das Haus gehörte einem Physikprofessor, der für zwei Jahre in Skandinavien unterrichtete. Geoff besaß den Schlüssel, weil er ab und zu hinfuhr, um die Pflanzen zu gießen. Er hielt es für unwahrscheinlich, dass sie jemand dort entdeckte.