»Wovon reden Sie da? Ich habe keine Anweisungen missachtet.«
»Es geht um Ihren Sohn. Randolph Reed?«
Jack atmete lang und tief durch. »Kann ich die Hände jetzt wieder runternehmen? Oder war bei der Missachtung der Anweisung etwa von Schusswaffen die Rede? Und außerdem« – er warf einen Blick auf die Menschenmenge, die sich am Straßenrand zum Gaffen eingefunden hatte – »komme ich mir gerade wie im Zoo vor.«
»Mir wäre es lieber, wenn Sie Ihre Hände weiter hochhalten, Sir. Sie haben das Recht zu schweigen. Sie haben das Recht …«
Jack spähte verzweifelt zu Geoff herüber. Wenn die Polizei ihn jetzt verhaftete, musste er sich eine glaubwürdige Erklärung für Randys Verschwinden einfallen lassen. Und was konnte er da schon ins Feld führen? Dass Randy von einem Verrückten, der durch Wände ging, entführt worden war? Dass die Druiden ihn mitgenommen hatten? Dass er wusste, dass es Randy gut ging, weil er ihn vor Kurzem als Glasskulptur in der Windschutzscheibe eines Autos gesehen hatte?
»… kann und wird vor Gericht gegen Sie verwendet werden.«
E L F
Rund eine Stunde nach Mitternacht erhielt Geoff endlich die Erlaubnis, das Polizeihauptquartier von Milwaukee in der 749 West State Street zu verlassen und nach Madison zurückzukehren. Jack hingegen saß in einer Zelle im ersten Stock direkt neben einem Betrunkenen, der ununterbrochen »Oh baby, baby, it’s a world wide ...« zum Besten gab.
Jack kaute deprimiert auf einem Kaugummi herum, der seinen Geschmack längst verloren hatte, und tigerte unruhig in dem kleinen Raum auf und ab. Er stand körperlich und geistig kurz vor dem Zusammenbruch, aber er durfte jetzt nicht schlafen. Da er kein Intellektueller war, fiel es ihm schwer, sich auf andere Gedanken zu bringen. Einen spontanen Selbstdiskurs über die moralische Relevanz seiner Taten zu beginnen ober über die Religion der Druiden zu philosophieren, das war nicht sein Ding. Er konnte sich genau wie der Besoffene nicht mal fehlerfrei an irgendeinen Songtext erinnern, um sich abzulenken.
Aber er besaß ein für die Menschen in Wisconsin typisches Durchhaltevermögen und sprühte vor Energie, die von eisigen Wintern am Lake Michigan herrührte. Außerdem war er ein Mann, der die Sachen gern selbst anpackte und um sein emotionales Überleben kämpfte.
Er musste das jetzt durchziehen. Und er durfte nicht aufgeben. Jack glaubte nicht an Menschen, die durch Wände gingen. Zumindest fand er, dass Menschen nicht durch Wände gehen sollten. Es handelte sich um uralte Magie, die seit Jahrhunderten in Vergessenheit geraten sein sollte. Er lebte schließlich im 20., fast schon im 21. Jahrhundert.
Abgesehen davon hielt Jack nichts von Menschen, die anderen ihre Kinder wegnahmen und die Eltern vor lauter Sorge fast umbrachten.
»Oh baby, baby, it’s a world wide ...«
»Es heißt nicht ›world wide‹, sondern ›wild world‹!«, fuhr Jack den Sänger an.
»Hä?«, kam die undeutlich gebrabbelte Antwort.
»›It’s a wild world‹ – es geht verdammt stürmisch zu!«
Es folgte eine lange Pause – dann kam die fröhliche Antwort: »Ja, da hast du verdammt recht!«
Jack hockte auf der Bettkante. Seine größte Angst bestand darin, dass Quintus herausfand, wo er gerade steckte, ins Polizeigebäude eindrang und ihn in den Stahlbetonboden der Zelle zog. Außerdem befürchtete er, dass die Konfrontation auf dem Parkplatz dazu geführt hatte, dass Quintus wieder mit Feuereifer ans Werk ging, um die 800 Menschen abzuschlachten, die er brauchte, um wieder in die reale Welt zurückzukehren. Und dass Randy dann als letztes Opfer Awen zum Fraß vorgeworfen wurde.
Jack rieb sich die Augen. Er hatte seinen Anwalt, Maurice Lederman, angerufen, doch der war gerade nicht in der Stadt (sondern in Miami zum Angeln, verdammter Mist!). Laut seiner Frau gab es bis zum nächsten Morgen keine Möglichkeit, mit ihm in Kontakt zu treten. Jack war wegen Missachtung einer gerichtlichen Anordnung offiziell festgenommen worden, weil er Maggie den regelmäßigen Kontakt mit Randy verweigerte. Er sollte so lange hinter Schloss und Riegel bleiben, bis der Verbleib von Randy geklärt war.
Um etwa drei Uhr früh wurde die Tür zu seiner Zelle aufgeschlossen und ein elegant aussehender, dunkelhaariger Mann mit Drei-Uhr-Augenringen, dessen breite Schultern seinen grauen Anzugstoff arg strapazierten, betrat mit einem Klemmbrett unter dem Arm und zwei Plastikbechern voller Kaffee die Zelle.
»Na, wie geht es Ihnen, Mr. Reed? Ich bin Sergeant Charles Schiller. Dachte, Sie hätten vielleicht Lust auf ’nen Kaffee.«
»Wenn Sie mit mir plaudern wollen, müssen Sie sich leider noch ein paar Stunden gedulden. Mein Anwalt ist momentan leider damit beschäftigt, an der Küste von Miami Speerfische zu angeln«, klärte Jack ihn auf.
»Ja, Mr. Reed, das weiß ich«, entgegnete Sergeant Schiller.
In seiner Stimme schwang etwas so Schneidendes mit, dass Jack zu ihm hochschaute. Sergeant Schiller musterte ihn aufmerksam und gleichgültig, beinahe schon verächtlich.
»Stimmt was nicht?«, blaffte Jack ihn an.
»Stimmt was nicht?«, äffte Sergeant Schiller ihn nach. »Nun … sagen wir es mal so: Ich habe mein ganzes Leben in Milwaukee verbracht und bin stolz auf diese Stadt. Milwaukee versprüht ein Gefühl von Wärme und Freundschaft, wissen Sie, was ich meine? Gemütlichkeit, pflegte mein Vater immer zu sagen. Und bis jetzt hatte Milwaukee eine der niedrigsten Kriminalitätsraten des Landes.«
Er hielt kurz inne, um mit einem Plastikstäbchen in seinem Kaffee herumzurühren. Dann fuhr er fort: »Wir hatten eine ziemlich harte Woche. Überall in der Stadt sind Menschen verschwunden. Man munkelt schon, dass Milwaukee nicht mehr sicher ist. Die Leute kriegen Panik, sie werden aggressiv und misstrauisch. Das ist nicht das, was ich unter Gemütlichkeit verstehe, Mr. Reed. Das ist ein ziemlich unsoziales Verhalten. Und ich mache mir nicht besonders viel aus Leuten, die sich ›ziemlich unsozial‹ verhalten.«
Müde entgegnete Jack: »Man beschuldigt mich, meiner Frau das Recht zu verweigern, ihren neunjährigen Sohn zu sehen. Damit stehe ich wohl kaum auf der gleichen Stufe wie Al Capone, oder?«
»Verraten Sie mir, wo Ihr Sohn sich aufhält?«
»Erst wenn ich mit meinem Anwalt gesprochen habe.«
»Ist Ihr Sohn am Leben?«
»Natürlich ist er am Leben. Was zum Teufel wollen Sie mit Ihrer Frage andeuten?«
»Und Miss Olive Estergomy aus Sun Prairie, ist sie auch am Leben?«
Jack schluckte. Genau das hatte er befürchtet. Es sah ganz danach aus, als hätten ihn die schrecklichen Vorkommnisse aus The Oaks eingeholt.
»Sie kennen Miss Olive Estergomy also?«
»Ich möchte mit meinem Anwalt sprechen«, erklärte Jack.
»Aber Sie kennen sie?«
»Ja, ich kenne sie«, gab Jack zu.
»Wissen Sie, wo sie sich aufhält?«
Jack schüttelte den Kopf.
»Ist sie am Leben, Mr. Reed?«
»Ich will meinen Anwalt.«
Sergeant Schiller nippte an seinem Kaffee und blätterte in den Notizen auf seinem Klemmbrett. »Also gut«, lenkte er ein und fragte dann: »Und was ist mit Mr. Daniel Bufo aus Madison? Lebt er noch?«
»Das kann ich nicht sagen«, antwortete Jack.
»Wissen Sie, wo er ist? Das würde uns wirklich sehr interessieren.«
»Da kann ich Ihnen nicht helfen, tut mir leid.«
»Also gut … was ist mit Mr. William Bell aus dem Altenheim Bay Park in Green Bay? Lebt er noch?«
»Würden Sie mir bitte erklären, was das soll?«, bat Jack den Polizisten.
Sergeant Schiller ließ sein Klemmbrett sinken. »Aber sicher. Fakt ist, dass Ihr Sohn Randy, Miss Olive Estergomy, Mr. Daniel Bufo sowie Mr. William Bell alle zwei Dinge gemeinsam haben. Erstens sind sie alle verschwunden. Und zweitens waren Sie, Mr. Reed, nach unseren Informationen die letzte Person, die sie lebend zu Gesicht bekommen hat.«