»Und was soll das beweisen?«, wollte Jack wissen.
»Es beweist gar nichts«, erklärte Sergeant Schiller. »Aber es legt nahe, dass jeder Versuch der Aufklärung ihres mysteriösen Verschwindens bei Ihnen anfangen und vielleicht auch bei Ihnen enden sollte.«
»Werden Sie mich unter Anklage stellen?«
»Noch nicht. Morgen früh kommen ein paar Beamte aus Madison zu uns. Auch ich möchte mit Ihrem Anwalt sprechen und mit dem Sekretariat der Staatsanwaltschaft. Aber eines möchte ich hier und jetzt klarstellen, Mr. Reed: Falls Sie wissen, wo diese Menschen sich aufhalten, dann täten Sie gut daran, mir das möglichst bald mitzuteilen.«
»Kann ich jemanden anrufen?«, wollte Jack wissen.
»Sie wollen jetzt jemanden anrufen?«
Ein Beamter in Uniform eskortierte Jack durch den Gang in eines der Verhörzimmer. Jack wählte Geoffs Nummer und wartete, während es klingelte. Der uniformierte Beamte stand an der Tür und gähnte. Endlich hob Geoff ab. Er klang völlig fertig: »Hallo? Wer um alles in der Welt klingelt mich denn um diese Zeit aus dem Bett?«
»Geoff, ich bin’s, Jack.«
»Oh Gott. Jack, wie geht’s dir? Sie haben noch nicht angefangen, mit Gummiknüppeln auf dich einzuschlagen, oder?«
»Na ja, fast. Die Lage hat sich ziemlich verschlechtert. Sie haben mir Fragen über Olive Estergomy, Daniel Bufo und Pater Bell gestellt.«
»Jack, pass bloß auf, was du sagst«, warnte ihn Geoff. »Der Anruf hier wird ziemlich sicher abgehört.«
»Das ist mir scheißegal. Du musst mir helfen, Geoff. Sie werden mich hier tagelang festhalten, so wie ich das sehe. Bis dahin ist es vielleicht schon zu spät. Es wird sicherlich noch übler auf den Straßen werden. Mensch, Geoff, es hängt alles an mir! Ich muss da draußen sein und kämpfen.«
»Und was hat dein Anwalt bisher unternommen, um dich rauszuboxen?«, fragte Geoff ihn.
»Mein Anwalt befindet sich gerade auf der Rückreise aus Miami. Abgesehen davon glaube ich kaum, dass er mich auf Bewährung freikriegt. Nicht bis Randy wieder aufgetaucht ist und das Gericht sich davon überzeugt hat, dass er wohlauf ist. Und wenn die Polizei mich anklagt, all diese Menschen entführt zu haben, komme ich vielleicht gar nicht mehr auf freien Fuß.«
»Ich weiß nicht, was ich noch für dich tun kann, Jack«, entgegnete Geoff. »Ich werde nach dem Aufstehen versuchen, alles über Rituale herauszufinden, was ich kann … aber du musst bedenken, dass das alles vor über 2.000 Jahren passiert ist. Das meiste davon ist reine Legende und vieles ergibt überhaupt keinen Sinn.«
»Schon gut«, meinte Jack. Irgendwie fühlte er sich plötzlich völlig ermattet – und ihm war schlecht. »Lass uns später noch mal miteinander reden, sofern sie mir das erlauben. Momentan scheinen sie mich noch für eine kuriose Kreuzung aus Serienkiller David Berkowitz und Bruno Richard Hauptmann, den Entführer von Charles Lindberghs Sohn, zu halten.«
Jack wurde wieder zurück in seine Zelle geführt. Als er dort ankam, stellte er fest, dass Sergeant Schiller immer noch dasaß und auf ihn wartete.
»Wie wäre es mit einer Gutenachtgeschichte?«, erkundigte dieser sich.
Jack schüttelte den Kopf. »Morgen kommt mein Anwalt zurück. Bis dahin sage ich nichts.«
Sergeant Schiller verzog die Lippen zu einem dünnen Schlitz, der wohl ein Lächeln andeuten sollte. Es erinnerte Jack an den Abdruck eines sehr scharfen Meißels auf frisch gehobeltem Kiefernholz. »Eines verspreche ich Ihnen, Mr. Reed. Ich persönlich glaube, dass Sie etwas mit dem Verschwinden all dieser Menschen zu tun haben. Das gilt auch für Ihren Sohn. Außerdem bin ich mir ziemlich sicher, dass sie alle tot sind und Sie dafür verantwortlich sind. Wenn es so ist, dann verspreche ich Ihnen hoch und heilig, dass ich Ihren verdammten Arsch an die Wand nagle, Mr. Reed.«
Er ging zur Tür der Zelle und öffnete sie. »Sie werden dieses Gefängnis nie wieder verlassen.«
»Gute Nacht, Sergeant. Wir sehen uns morgen«, erwiderte Jack.
»Oh, sicher doch, keine Sorge. Darauf können Sie Gift nehmen«, beendete Schiller das Gespräch.
Jack schlief kaum mehr als zwei Stunden. Um 05:15 Uhr lag er hellwach auf seiner Pritsche und lauschte den Geräuschen, die aus dem Polizeigebäude zu ihm drangen, den verzerrten Schreien, ständig zufallenden Türen, dem Gepfeife und abrupt ausbrechenden Gelächter.
In der Ferne konnte er die Sirenen von Krankenwagen und Polizeiautos ausmachen. Er wollte gar nicht wissen, mit welcher Art von Notfällen sie es zu tun hatten. Noch mehr unschuldige Menschen, die in Gehsteige gezerrt oder gegen Wände geklatscht wurden. Noch mehr Seelen, die der grässlichen, glorreichen Wiederauferstehung von Quintus Miller zum Opfer fielen.
Er wühlte sich aus der Koje und klatschte sich am Waschbecken in der Ecke der Zelle kaltes Wasser ins Gesicht. Im Plastikspiegel sah er blass und verzerrt aus und seine Nase kam ihm riesig vor. Der Geist des Menschen, der einmal Jack Reed gewesen war.
Wenn er nur einfach hier rausmarschieren könnte, mitten durch die Wand, wie Quintus es zu tun pflegte.
Jack setzte sich wieder aufs Bett. Was, wenn er durch die Wand gehen konnte? Vielleicht gelang es Geoff ja, das komplette Druidenritual aufzuspüren. Quintus Miller hatte es ja schließlich auch geschafft und der war bekanntlich nicht ganz klar im Kopf. Ihr müsst die Musik spielen, so hatte Lester gesagt. Ihr müsst die Beschwörungsmusik spielen.
Es war ein Puzzle, bei dem bereits ein paar Teile zusammenpassten – etwa die Information, wie Quintus vom Druidentum erfahren hatte, und die Geschichte des Rattenfängers von Hameln. Aber es gab noch so viele offene Fragen und Unklarheiten. So viele Puzzlestücke, die sich anfühlten, als ob sie passten, es aber doch nicht taten.
Jack legte sich wieder hin und grübelte über die fehlenden Teile nach.
Sie kannten den Großteil des Rituals, das sie in den festen Felsen hineinbringen würde. Aber sie kannten die heilige Melodie immer noch nicht, die Melodie, die der Rattenfänger von Hameln den Kindern vorgespielt hatte, als sie in den Koppelberg liefen.
Seltsamerweise nahm Lester an, dass er und Geoff die Beschwörungsmelodie schon einmal gehört hatten. Ihr kennt sie, das waren seine Worte gewesen. Aber woher sollten sie die Melodie kennen? Sie hatten sie seines Wissens noch nie gehört, geschweige denn irgendwo etwas über sie gelesen. Doch dann musste Jack an ein weiteres Teil des Puzzles denken, ein bislang rätselhaftes Detail.
Geoffs Freund aus Harvard hatte ihm Auszüge aus Druggetts Druidenbuch vorgelesen. Wie war das gleich beim Höhepunkt des Rituals gewesen, als die Druiden in die Wände eindrangen?
»Sie spielten König.«
Doch Geoff war davon nur am Telefon erzählt worden. Er hatte die Passage nicht selbst gelesen. Was, wenn die Druiden nicht so taten, als wären sie Könige, wonach das Ritual ja eigentlich klang. Was, wenn sie vielmehr wörtlich »König« spielten, eine Melodie namens »Der König«?
Und wo hatte Jack vor Kurzem ein Lied über einen König gehört?
Schlagartig fiel es ihm ein. Die weit entfernte Stimme, von der er jetzt wusste, dass sie Quintus Miller gehörte – in den verlassenen Gängen von The Oaks. Das einfache Kinderlied, das er immer wiederholt hatte, bis Jack jedes Mal, wenn er es hörte, ein eisiger Schauer über den Rücken lief.
»Lavendelblau, dideldei;
Lavendel, hier gehör ich hin.
Hier bin ich König, dideldei;
Und du wirst Königin.«
Langsam setzte sich Jack auf. Wenn er sich richtig erinnerte, hatte Quintus die Melodie nicht ganz korrekt gesungen. Na ja, zumindest nicht so, wie man sie im Kindergarten lernte. Ein oder zwei Noten waren anders gewesen – schräger, in Ermangelung eines besseren Worts: barbarischer.