»Und was soll das jetzt bringen?«, fragte Karen skeptisch. »Schließlich bist du hier eingesperrt.«
»Karen, denk doch mal nach. Wenn ich in die Wand rein kann, dann komme ich hier auch raus.«
Plötzlich dämmerte es ihr. Sie hielt sich die Hand vor den hellrot geschminkten Mund. »Das würdest du wirklich tun?«
»Ich bin kein Anwalt, aber ich denke, meine Chancen, hier auf Bewährung rauszukommen, sind ähnlich groß wie eine Krönung zum Papst. Das Problem ist, dass Otto Schröder von einer enormen Energieladung getötet wurde, die völlig aus dem Nichts kam – du weißt schon, wie bei einem extremen elektrischen Schock. Quintus Miller muss irgendwie dafür verantwortlich sein, Gott weiß, wie er das wieder geschafft hat. Otto schlug sich den Kopf auf, als er fiel. Geoff und ich waren noch nicht mal in seiner Nähe. Also zumindest waren wir mindestens so weit entfernt wie der Bulle, der jetzt an der Tür steht. Aber die Polizei ist wohl der festen Überzeugung, dass wir ihm einen Betonklotz über den Kopf gezogen und den Schädel zertrümmert haben.«
Jack hielt inne und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Abgesehen davon sind sie der Überzeugung, dass ich all die anderen Menschen auf dem Gewissen habe – Pater Bell, Olive Estergomy, Daniel Bufo. Und ich will ihnen immer noch nicht verraten, was mit Randy passiert ist. Ich kann es ihnen nicht sagen. Mir bleibt also gar keine Wahl. Entweder verrotte ich hier drin oder ich versuche, durch die Wand rauszukommen.«
»Ich weiß, dass du Randy nicht entführt und Daniel Bufo nicht ermordet hast. Ich war dabei – ich könnte es ihnen sagen«, schlug Karen vor.
»Ich weiß, dass du das könntest, aber tu es bitte trotzdem nicht. Es wird nichts nützen. Sie werden dich höchstens auch noch einbuchten – als meine Komplizin. Jedenfalls halte ich es für besser, wenn du nicht noch einmal herkommst. Sieh besser zu, dass du dich für eine Weile irgendwo versteckst.«
»Oh, Jack …«, begann Karen. »Wenn dir etwas passiert … wenn etwas schiefgeht. Was, wenn du in die Wand hinein kannst, aber nicht mehr heraus?«
»Bleibt mir denn eine Wahl? Schließlich kann ich nicht einfach hier rumsitzen und tatenlos zusehen, wie Quintus Miller Hunderttausende Menschen in den Untergrund verschleppt, oder? Und was ist mit Randy? Karen, ich habe ihn gesehen. Er saß bei Quintus Miller auf der Schulter und war noch am Leben.«
»Was hast du jetzt vor?«, wollte Karen wissen.
»Ohne deine Hilfe kann ich gar nichts tun. Ich weiß, dass das komisch klingt, aber ich brauche dringend eine Flöte … die Art von Flöte, wie sie Druiden damals benutzt haben. Frag Geoff mal danach. Ich brauche außerdem eine Liste mit den verschiedenen Namen des Druidengottes Awen.«
»Jack …«, begann Karen.
Man konnte ihr deutlich ansehen, was sie dachte. Dass ihm der Stress und der Schock der letzten Tage zusetzten und er völlig am Ende war – und deshalb inzwischen genauso plemplem wie Quintus Miller.
»Karen«, flehte er sie an. »du warst so tapfer und so gut zu mir. Ich liebe dich, weißt du das? Das tue ich wirklich. Ich weiß nicht, was gerade mit mir passiert, und ich habe Todesangst. Aber ich muss jede Chance nutzen, die mir bleibt. Verstehst du das? Jede Möglichkeit nutzen, auch auf die Gefahr hin, dass ich völlig durchgeknallt klinge.
Die Flöte, Karen, bitte. Und die Liste mit den Namen. Gib beides meinem Anwalt mit. Er heißt Maurice Lederman. Seine Kanzlei befindet sich im achten Stock des First Wisconsin Centers. Lederman, Pfister und Lederman. Sag ihm, dass beides dringend in meine Hände gelangen muss.«
Karen schluckte, als ob ihr Mund völlig ausgetrocknet wäre. »Okay.« Sie nickte. »Ich werde versuchen, das heute noch zu erledigen.« Sie beugte sich über den Tisch und küsste ihn. »Ich liebe dich, Jack.«
»Hey, Schluss mit dem Geknutsche!«, blaffte der junge rothaarige Beamte.
Karen schob geräuschvoll ihren Stuhl zurück und eilte mit ihrem gewohnten Gang, der sie aussehen ließ, als ob ihr Körper gleichzeitig in fünf verschiedene Richtungen tänzelte, in Richtung Tür. Sie reckte ihr Kinn in die Höhe und erklärte dem Polizisten: »Sir, Sie wüssten nicht einmal, was Küssen heißt, wenn zwei Elefanten kämen und Sie am Arsch lecken würden.«
Mit diesen Worten stöckelte sie den Gang hinunter. Der Rotschopf schaute ihr nach und sah Jack dann merklich bedröppelt an.
»Was hat sie denn damit gemeint?«, wollte er wissen.
»Wer weiß das schon?«, entgegnete Jack. »Aber es hat Ihnen ziemlich die Sprache verschlagen, nicht wahr?«
Jack brachte den restlichen Vormittag mit Nachdenken zu. Sein Anwalt, Maurice Lederman, kam gegen 15:00 Uhr bei ihm vorbei und sprach über eine Stunde lang von nichts anderem als Vorverhandlungen und der Suche nach einem geeigneten Strafverteidiger. Maurice Lederman gab sich keine Mühe, seinen Unmut darüber zu verbergen, dass man ihn vorzeitig aus dem Angelurlaub zurückgeholt hatte. Das erste Mal seit fast neun Jahren war er seiner Frau Sheldra erfolgreich entkommen. Und er hasste Sheldra. Er nannte sie abfällig die Zofe des Rabbiners, weil sie so viel Zeit in der Synagoge verbrachte und um den Rabbi herumscharwenzelte.
Maurice Lederman war hoffnungslos übergewichtig, hatte wirres, graues Haar und eine krause Stirn. Seine tief liegenden Augen standen eng zusammen, sodass Jack bei seinem Anblick immer an eine Krabbe denken musste. Dieser Eindruck wurde durch seinen knallroten, halb abgeschälten Sonnenbrand noch verstärkt. Hautschuppen, die er von Zeit zu Zeit herunterschnippen musste, rieselten auf seinen Notizblock.
»Sie machen sich keine Freunde, wenn Sie die ganze Zeit den Mund halten, Jack«, beschwerte er sich. »Wenn Sie zumindest einen Ansatz von Kooperationsbereitschaft zeigen würden, könnten wir vielleicht irgendeine Übereinkunft mit der Polizei treffen. Und ein bisschen Kooperationsbereitschaft mir gegenüber würde sicherlich auch nicht schaden.«
»Maurice, ich habe keinen dieser Menschen angerührt und die Polizei hat auch keine Beweise gegen mich. Das ist alles, was ich dazu zu sagen habe.«
Maurice zog ein Nasenspray aus seiner Hemdtasche und sprühte einmal in jedes Nasenloch. »Es gibt eine Zeugin, Mrs. Yvonne Cropper, die zuständige Pflegerin im Altenheim Bay Park. Sie sagt aus, dass Sie Mr. William Bell in der letzten Nacht, in der man ihn lebend gesehen hat, zum Essen ausführten. Kellner im ›Ship’s Lantern‹-Restaurant von Green Bay können ebenfalls bezeugen, dass Sie mit Mr. Bell dort waren, mit ihm sprachen und ziemlich animiert mit ihm diskutierten.«
»Animiert? Was soll das denn sein? Wie in einem Zeichentrickfilm?«
Maurice fixierte ihn mit seinen ausdruckslosen, dunklen Krebsaugen. »Verdammt, Jack, die Lage ist ernst. Sie werden wegen Kindesentführung, Kidnapping sowie mehrfachen Mordes angeklagt.«
»Maurice, ich bin unschuldig. Ich habe nichts verbrochen, nur einen alten Kerl zum Essen eingeladen. Das ist ja wohl keine Straftat.«
Maurice atmete tief und keuchend ein, zögerte kurz und fuhr dann fort: »Es gibt eine weitere Zeugin, Miss Helena Manfield, die behauptet, dass sie Sie auf Ihren ausdrücklichen Wunsch hin mit Miss Olive Estergomy bekannt gemacht hat. Miss Manfield sagt, dass Sie ein ungewöhnliches, fast schon morbides Interesse an der Familie Estergomy zeigten. Die Familie Estergomy leitete The Oaks, als es sich noch um eine Einrichtung für geistig verwirrte Kriminelle handelte. Sie sagt, dass Miss Estergomy in der Nacht, als sie zuletzt lebend gesehen wurde, bei ihr anrief und erzählte, dass sie versucht habe, mit Ihnen in Kontakt zu treten. Man habe Miss Estergomy mitgeteilt, dass Sie sich vermutlich in The Oaks aufhielten. Miss Estergomys leer stehendes Auto wurde später vor den Toren des Anwesens gefunden.