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Heidi Feldman, eine Kellnerin im Karl-Ratzsch-Restaurant in Milwaukee mit wunderschönen goldbraunen Locken, wurde von den Irren überrascht, als sie den Aufzug in ihr Apartment im vierten Stock in West Allis betrat. Sie beugte sich zum Spiegel an der Hinterwand, um sich ein störrisches Haar ihrer Augenbraue auszureißen, als zwei kräftige Hände das Glas zersplitterten und sie mit dem Kopf voran in die Ziegelsteinwand des Aufzugschachts zogen, während die Kabine ihre Fahrt nach oben unbeeindruckt fortsetzte.

In den letzten Sekunden ihres Lebens fühlte Heidi Feldman, wie ihr Kopf wie Getreide zwischen zwei enormen Mahlsteinen zermalmt wurde. Im vierten Stock stand ihr Mann mit einem Lächeln im Gesicht und einem Martini in der Hand vor der Aufzugtür und fand lediglich die Spuren der Verwüstung vor.

Ein 35-jähriger Fernsehtechniker namens Roy Truesho schlief in seinem Doppelhaus in Monona südöstlich von Madison friedlich neben seiner Frau, als eine glänzende Hand aus dem Sperrholz am Kopfende des Bettes herausschnellte und wie eine Gottesanbeterin zitternd auf sein Handgelenk losging. Roy wurde Zentimeter für Zentimeter in das Holz gezogen. Er schrie nicht. Seine Frau öffnete ihre Augen genau in dem Moment, als sein linker Fuß ins Holz hineinrutschte. Seine Zehen waren vor Schmerzen gekrümmt.

Dann war sie allein – und Witwe. Ihre zwei kleinen Kinder schliefen im Zimmer gegenüber.

Der Regen schwappte wie warmes Blut über die Bezirke Green, Dane und Jefferson.

Jack hockte in einer unbequemen Position im Schneidersitz auf seiner Pritsche im Gefängnis des Polizeihauptquartiers von Milwaukee. Er wartete darauf, dass die Stunde nach Mitternacht vorbeiging und der Mond seinen höchsten Stand erreichte, auch wenn er hinter den dichten Regenwolken derzeit gar nicht zu sehen war. Punkt 1, hatte Geoff in seinem merkwürdigen Kurzsteno geschrieben, in das ihn der Dozent glücklicherweise für die Lektüre seiner Notizen eingewiesen hatte. Leylinien maximal geladen. Leichter, dann durchzukommen, hoffe ich, entzifferte Jack mit einiger Anstrengung.

Die Notiz endete mit: Treffe dich am Hexagramm. Qs Zimmer, so bald wie möglich.

Jack schloss die Augen und atmete tief und gleichmäßig ein und aus. An Schlaf war ohnehin nicht zu denken. Das Problem war, dass er selbst nicht wirklich daran glaubte, in die Wand eindringen zu können, geschweige denn, sich nach The Oaks durchzuschlagen und dann mit der Lässigkeit eines Mannes, der aus einer U-Bahn steigt, vor Quintus Millers Hexagramm wieder aufzutauchen. Er hatte Quintus Millers schräge Version von Lavendelblau immer und immer wieder eingeübt (sehr zum Leidwesen des lärmenden, unter Drogen stehenden Punks in der übernächsten Zelle). Jack hatte außerdem die Rituale und die Namen komplett auswendig gelernt. Das alles klang mehr denn je nach abgefahrenem Hokuspokus. Hätte er diese Wahnsinnigen nicht mit eigenen Augen aus dem Boden kommen sehen und wäre er nicht Zeuge gewesen, wie Pater Bells Finger brannten und Essie Estergomy in den Kies hinabgezerrt wurde, hätte er es einfach bleiben lassen.

Kurz vor Mitternacht hatte er die Flöte wieder zur Hand genommen, um noch eine Reprise von Lavendelblau, dideldei, Lavendel, hier gehör ich hin zu spielen, als Sergeant Schiller unerwartet hereinkam, mit den Händen in den Taschen im Türrahmen stehen blieb und ihn beobachtete. »Meine Schicht ist zu Ende«, sagte er schließlich. »Ich gehe jetzt nach Hause. Wollte mal hören, ob Sie mir gerne etwas erzählen möchten, das mich leichter schlafen lässt.«

Jack sah ihn lange wortlos an.

»Na dann, viel Spaß noch«, verabschiedete sich Sergeant Schiller und wandte sich zum Gehen.

»Sergeant!«, meldete sich Jack doch noch zu Wort.

»Was ist denn?«

»Ich wollte Ihnen nur sagen, dass ich Ihnen nicht mehr so viel länger auf den Wecker gehen werde. Das verspreche ich.«

»Was für eine Art Versprechen soll das denn sein?«

»Das werden Sie schon sehen. Zumindest hoffe ich das.«

»Sie sind wirklich völlig geistesgestört, Mr. Reed. Gehen Sie schlafen.«

Um 01:15 Uhr, als es im Polizeihauptquartier relativ still wurde und man nur das Echo einiger Gespräche, vereinzelte hallende Schritte sowie einige Schnapsleichen und Drogensüchtige hören konnte, die im Schlaf brabbelten, hob Jack den Kopf, blickte sich um und lauschte. Zwei, drei Minuten später erhob er sich leise von seinem Bett und tappte auf Strümpfen zur Hinterwand der Zelle. Draußen regnete es immer noch. Die Tropfen prasselten leise, aber unablässig gegen das Fenster.

Jack dachte bei sich: Endlich ist der Moment gekommen. Jetzt vertraue ich auf die Geschichte und auf uralte Magie. Oh Gott, hoffentlich funktioniert es. Oh Gott, hoffentlich funktioniert es nicht.

Er verzog das Gesicht, als er die winzige silberne Rasierklinge, die Geoff hinter dem Blatt der Flöte befestigt hatte, aus ihrem Versteck hervorholte und sich damit über den Daumen fuhr. Blut strömte heraus. Jack konnte hören, wie es klebrig auf den Keramikfliesen der Zelle landete. Plitsch, platsch, plitsch, platsch. Er drückte sich das Handgelenk ab und ging zur Wand. Aus seinem Daumen tropfte immer noch Blut heraus. Die gewaltige Tragweite dessen, was er vorhatte, ließ ihn zittern. Oder vielleicht lag es auch einfach an der Verrücktheit des ganzen Unterfangens.

Es wird nicht funktionieren, es wird nicht funktionieren. Es ist viel zu spät.

Jack zögerte, schnaubte und zeichnete dann mit seinem eigenen Blut zwei große Dreiecke, ein normales und ein weiteres, das auf dem Kopf stand. Salomons Hexagramm. Erde, Wind, Wasser und Feuer – und an der Stelle, an der sie sich überschnitten: die Quintessenz; das fünfte Element.

Er stellte sich davor und berührte die Wand. Draußen vor dem Fenster seiner Zelle zuckte ein Blitz vom Himmel und Donner krachte wie Tausende Baumwolltücher, die gleichzeitig zerrissen wurden. Regen prasselte auf die Hausdächer von Milwaukee, als ob Gott sich vorgenommen hatte, die Stadt zu überfluten und in einen See zu verwandeln.

Jack nahm die von Geoff eng bekritzelten Blätter zur Hand und rezitierte die darauf notierten Druidenformeln. Da haben sich bestimmt Fehler eingeschlichen, sinnierte er. Es ist schon zu lange her. Wie kann man ein Ritual über eine Zeitspanne von 2.000 Jahren korrekt überliefern?

Aber Quintus Miller hatte es schließlich auch geschafft, oder nicht? Quintus Miller und all seine übergeschnappten Jünger. Und wenn Quintus Miller es fertigbrachte, dann würde es ihm auch gelingen.

»Dia dha mo chaim,

Dia da mo chuairt,

Dia dha mo chainn,

Dia dha mon smuain!«

Er kam sich vor wie ein Idiot. Wie ein Vollidiot sogar. Seine Aussprache war vermutlich entsetzlich. Selbst wenn es Keltengötter und druidische Einflüsse gab, dann konnten ihn die Gottheiten wegen seines schrecklichen Zungenschlags vermutlich trotzdem nicht verstehen.

Doch er las alles so exakt wie möglich ab, was Geoff aufgeschrieben hatte, bis zum letzten Wort. Dann nahm er sich die Liste der 50 Namen von Awen vor – Da und Yoghan, Mabo und Mabona, Lu und Lew, mab-Moi und Mabinos.

Jack zögerte, leckte sich die Lippen und spielte dann auf der Flöte mit höchster Konzentration die Melodie von Lavendelblau, dideldei. Anschließend sprach er die finalen rituellen Worte, die ihm den Zutritt in die Wand ermöglichen sollten:

»Caimich mi a nochd,

Eadar uir agus eare,

Eadar run do reachd,