Agus dearc mo dhoille.
Begrab mich des Nachts,
Unter Weiden und Herden,
Im Geheimnis deiner Gesetze.
Meine blinden Augen.«
Während Jack die Worte rezitierte, näherte er sich mit zitternden Händen dem Hexagramm an der Wand seiner Zelle. Er ging näher und immer näher, bis sein Gesicht das graue Mauerwerk berührte. Begrab mich des Nachts, flüsterte er. Begrab mich des Nachts.
Er hörte Schritte im Gang vor seiner Zelle. Die Wache kam. Er hörte Schlüssel klappern und einen der Besoffenen, der schrie: »Mutter! Mutter! Hol mich hier raus, Mutter!«
Jack schloss die Augen. Gott steh mir bei. Begrab mich des Nachts im Geheimnis deiner Gesetze.
Die Tür zu seiner Zelle öffnete sich. Der Wärter sagte: »Sie haben ja schon wieder auf der verdammten Flöte gespielt. Damit treiben Sie hier noch alle anderen Zelleninsassen in den Wahnsinn.«
Jack trat in die Wand hinein.
Z W Ö L F
Er fühlte sich wie mit trockenem Sand überschüttet. Er konnte die Augen nicht öffnen, weil Ziegelsteine vor seinem Gesicht vorbeischrammten. Doch Jack bemerkte, dass er gar nicht auf seine Sehorgane angewiesen war. Er konnte sich im Geiste sehr gut vorstellen, wo er hinging, konnte es fast genauso deutlich visualisieren wie mit geöffneten Lidern. Die Wände des Polizeihauptquartiers erschienen ihm wie düstere, enge Pfade eines Labyrinths und er konnte sich in ihnen schnell und problemlos fortbewegen. Seine eigenen Moleküle durchdrangen die Moleküle des Mauerwerks und gaben dabei ein dunkles Sssssschhhhhh-Geräusch von sich.
Jack legte die gesamte Länge des Zellentrakts in der Wand zurück. Immer wenn er eine der Metalltüren passierte, fühlte es sich anders an, fast so, als ob ihn ein Rasensprenger erwischt hätte, wie ein plötzlicher Schwall eiskalten Wassers. Er erreichte die Treppe. Da wurde ihm klar, dass er sie wahrscheinlich gar nicht brauchte. Die Irren waren in ihrer erdigen Umgebung eher herumgeschwommen als gelaufen. Jack stellte sich vor zu schwimmen und ließ sich dabei tiefer in die Dunkelheit der Wände hineinsinken, hinab auf die Straße und dann unter die Straße.
Mit der merkwürdigen Eleganz eines unerfahrenen Tauchers bahnte er sich einen Weg durch Beton, Ziegelstein und Felsen. Ab und an musste er durch ein Abwasserrohr, eine Gasleitung oder ein elektrisches Kabel. Ohne dass er es wusste, verursachte sein Gang durch die Telefonleitungen ein kurzes, schattenhaftes Brutzeln, das die Gesprächspartner deutlich hören konnten.
Es war faszinierend für Jack, dass er beim Anheben seines Kopfes zumindest eine grobe Vorstellung davon bekam, was sich über der Oberfläche auf den Gehsteigen abspielte, genau wie ein Taucher undeutlich erkennen kann, was sich über der Wasseroberfläche eines Pools befindet. Er sah Autos von unten und die Schuhsohlen anderer Menschen. Alles wirkte verzerrt, quasi der umgekehrte Fall einer Unterwasser-Aufnahme. Doch wenn er bedachte, dass er von einem sehr dichten Medium in ein wesentlich weniger dichtes schaute – nun, er konnte sich nicht mehr genau an die Physikstunden in der High School erinnern, aber sein Erklärungsversuch erschien ihm wissenschaftlich einleuchtend.
Jack spürte die Erschütterung deutlich, als zahlreiche Turmglocken und Standuhren der Stadt Milwaukee nahezu synchron 01:45 Uhr schlugen. Er musste eine Leylinie finden, eine der mystischen Hauptverbindungsrouten, die es ihm ermöglichte, auf schnellstem Wege zurück nach The Oaks zu gelangen. Eine Art Druiden-Autobahn, schmunzelte er über seine eigene Wortschöpfung. Er konnte den Magnetismus der Erdlinien um sich herum spüren, ähnlich wie sensible Naturen das Herannahen eines Gewitters erahnten. Es war ein seltsames, kitzelndes Gefühl, als ob die Schnurrhaare einer Katze einen streiften. Die Nervenenden in seinen Handflächen prickelten.
Er bewegte sich tief unterhalb des Milwaukee River und glitt durch den schlammigen Untergrund in Richtung Osten. Unter dem Fluss war es viel schwärzer und kälter und er spürte das Gewicht der Erde auf sich lasten. Merkwürdigerweise fühlte er sich aber weder eingesperrt noch hatte er Anfälle von Klaustrophobie, obwohl ihn normalerweise in engen Räumen häufig die Panik übermannte. Jack blieb ganz ruhig und arbeitete sich zielstrebig und zunehmend geübter durch die Erde vor.
Immerhin war er dem Polizeigewahrsam entkommen. Sergeant Schiller würde ausflippen! Jack fragte sich, ob der Wachposten noch gesehen hatte, wie er in der Wand steckte. Nun, selbst wenn, der arme Mann würde vermutlich seinen Augen nicht trauen und es schon gar nicht wagen, seine Beobachtung an Sergeant Miller weiterzugeben.
Jack befand sich ganz nah am Fundament des East-West-Freeway. Mit einem energischen Ssschhh! Ssschhh! Ssschhh! wie jemand, der eine Schaufel in den feuchten Zement stößt, durchdrang er die Betonpfeiler, welche die Straße über ihm stützten. Jack erkannte instinktiv, dass er sich in unmittelbarer Nähe einer Leylinie aufhalten musste. Es fühlte sich an, als würde er durch die Erde gezogen. Sein ganzes Nervensystem brodelte in Reaktion auf den natürlichen Magnetismus. Die Linie verlief unter der Autobahn nach Südwesten, etwa in Richtung des Messegeländes der Wisconsin State Fair.
Jack war schier überwältigt von den mächtigen Kräften, die unter der Oberfläche auf ihn einwirkten. Natürlich war ihm immer bewusst gewesen, dass die Gezeiten durch die Anziehungskraft des Mondes hervorgerufen wurden. Aber die pulsierenden Muster in der Erde empfand er ebenfalls als enorm stark, wenn nicht sogar als noch stärker. Sie hatten ihn als Mann aus Fleisch und Blut in einen Mann aus bröckelndem Erdreich verwandelt und konnten ihn mit der Kraft eines großen Flusses mitreißen.
Jetzt war ihm auch klar, warum sich so viele Legenden darum rankten, dass der Mensch aus Lehm geformt wurde. Als Kind hatte er in einem seiner alten Buffalo-Bill-Bücher gelesen, dass Gitche Manitou, der große Gott der Indianer, den ersten Menschen auf diese Weise erschuf – der erste Versuch brannte an und wurde schwarz, der zweite war zu kurz im Ofen und bildete den Archetypus des Weißen, doch im dritten Anlauf gelang ihm schließlich ein perfekter Indianer.
Selbst in der Bibel stand Da formte Gott, der Herr, den Menschen aus Erde vom Ackerboden. Und es stimmte. Genau das war tatsächlich passiert. Die Druiden hatten es begriffen, genau wie ein rundes Dutzend weiterer Kulturen. Und Jack hatte heute Nacht nichts anderes getan, als diesen Prozess kurzerhand umzukehren – nicht Erde in einen Menschen, sondern einen Menschen in Erde verwandelt.
Es war eine Metamorphose so alt wie das Universum selbst: eine Metamorphose, welche das Band zwischen der Menschheit auf der einen sowie Gott und der von ihm erschaffenen Welt auf der anderen Seite noch verstärkte. Gott und der Mensch waren aus denselben Elementen hervorgegangen – Erde, Wind, Feuer und Wasser. Alles, was diese Elemente umfassten und einschlossen, verschmolz letztlich zu der mystischen und omnipräsenten Quintessenz.
Jack war sich darüber im Klaren, dass er – sofern er diese Verwandlung überlebte, Quintus Miller fand und ihn besiegte – nicht mehr derselbe Mensch sein würde wie vorher. Er hatte die ganze Bedeutung der biblischen Schöpfungsgeschichte erfasst und die Rolle, die Adam darin übernahm, durchschaut. Und er war tief in das Wesen seiner eigenen Menschlichkeit vorgedrungen.
Diese Erkenntnis erfüllte ihn mit schrecklicher Angst, aber gleichzeitig vermittelte sie ihm auch ein Gefühl von unbegrenzter Macht. Die meisten Menschen hatten den Glauben an den Planeten verloren, auf dem sie lebten. Doch einzelne wie Adolf Krüger hatten ihn wiedergefunden – auch Quintus Miller gehörte in diesen erlauchten Kreis. Kein Wunder, dass die frühen Christen die Druiden gefürchtet hatten. Kein Wunder, dass sie mit aller Macht versucht hatten, sie auszulöschen.