Jack schwebte immer näher an die Leylinie heran und erreichte sie schließlich. Er konnte ihre Präsenz überall um sich herum wahrnehmen, so wie einen singenden, widerhallenden unterirdischen Fluss. Er hielt die Augen immer noch geschlossen, doch er spürte, dass die Linie jetzt genau vor ihm lag. Sie verlief kerzengerade bis nach Wisconsin, dann weiter bis zum Nordpol. So waren die Kelten also vor etlichen Jahrhunderten durch die Welt gereist und hatten ihre Druidenkultur nach Nordamerika gebracht. Nicht mit Booten oder Schiffen und auch nicht, indem sie die nördliche Meerenge zu Fuß durchquerten.
Jack musste lediglich der Leylinie folgen, dann würde er automatisch nach The Oaks gelangen. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit würde Quintus Miller dort die letzte Opferzeremonie durchführen, um sich und seine Anhänger aus der Erde zu befreien und wieder unter anderen Menschen zu leben.
Jack reiste die Linie entlang, rannte wie ein Mann in einem Traum. Der Boden und die Felsen strömten um ihn herum, strömten durch ihn, als ob er überhaupt keine physische Substanz besäße. Und doch konnte er die Stärke seines Körpers und die Stärke seines Geistes deutlich spüren. Er war zurück in dem Element, aus dem vor Urzeiten der Mensch entstanden war und Form und Kraft gewonnen hatte.
Jack konnte nicht einschätzen, wie schnell er sich voranbewegte, doch im Vergleich zu der Geschwindigkeit, mit der ein Mensch normalerweise rannte, wenn er nicht in seinem Element war, schien es unglaublich schnell zu sein. Er ließ seine geschlossenen Augen zum Himmel schweifen und die nächtlichen Gewitterwolken zogen an ihm vorbei wie bei den Zeitrafferaufnahmen in Spielbergs Unheimliche Begegnung der dritten Art.
Jack hörte nichts als das dumpfe Rauschen des Bodens, sssschhhhhh – ssssschhhh – ssssschhhh, und seinen eigenen, leicht keuchenden Atem.
Er ließ die Städte Okauchee, Waterloo, De Forest und Morrisonville hinter sich. Jack war höchstens noch 20 Meilen von The Oaks entfernt, als ihm ein anderes Geräusch auffiel. Schritte direkt hinter ihm. Noch jemand, der durch die Erde rannte. Kraftvoll und offenbar wild entschlossen, ihn einzuholen.
Jack drehte sich um. Weniger als eine Meile entfernt sah er vor seinem geistigen Auge einen Mann, der ihn verfolgte. Zwei Männer, drei. Sie hielten die Köpfe gesenkt und rannten mit erschreckender Beharrlichkeit. Wir kommen, um dich zu holen, Arschloch. Wir werden dich in Stücke reißen.
Jack erkannte die Stimme. Es war Gordon Holman, der Irre, der die Zunge seiner Frau an den Tisch und seinen eigenen Penis an einen Baum genagelt und Pater Bells Hände in Brand gesetzt hatte. Gordon Holman war hinter ihm her und der war mindestens genauso wahnsinnig wie Quintus Miller.
Jack holte tief Luft und lief weiter, so schnell ihn seine Beine trugen. Es wunderte ihn nicht sonderlich, dass er atmen konnte. Schließlich konnten Fische ebenfalls unter Wasser atmen, und wie er hier die Luft in seine Lungen sog, schien ihm damit vergleichbar zu sein. Jack fühlte Lehm über sein Gesicht rieseln. Er bewegte sich inzwischen mit einem solchen Tempo voran, dass ihn gelegentlich kleine und größere Steine mit fast derselben Wucht trafen, als wenn sie jemand gezielt auf ihn geworfen hätte.
Doch Gordon Holman und seine beiden Begleiter machten Boden gut. Sie hielten sich bereits deutlich länger hier unten auf, sodass ihre Körper regelrecht von der elementaren Energie der Erde durchtränkt waren. Jack begann die Schwingungen ihrer Bewegung an den Fußsohlen zu spüren. Sie waren hinter ihm her und hatten die feste Absicht, ihn abzufangen.
Das ist unser Tag!, grölte Gordon Holman durch das dichte Erdreich. Das ist unser Tag!
Jack spürte, dass er The Oaks fast erreicht hatte. Die Strömung der Leylinie verstärkte sich wie bei einem Fluss, der sich einem Wasserfall näherte. Der Boden, der Himmel, die Welt, alles rauschte an ihm vorbei. Jack wurde den Eindruck nicht los, dass er hilflos mitgerissen wurde, einen tiefen Berg hinunterstürzte und nicht mehr bremsen konnte.
Unser Tag, Arschloch! Unser Tag! Unser Tag!
In The Oaks trafen die Leylinien aus Westen, Osten, Südwesten und Norden aufeinander. Das Gelände, auf dem The Oaks errichtet worden war, sammelte seine Kraft aus allen vier Himmelsrichtungen, aber es war auch selbst ein Ausgangspunkt energetischer Machtballungen. Wie eine unterirdische Sonne große Anziehungskraft hat, die zugleich Impulse in alle Richtungen aussandte.
Jack konnte spüren, dass The Oaks in unmittelbarer Nähe war. Er rannte durch einen Wald. Die Wurzeln der Bäume rankten sich düster durch den Boden wie Tentakel von Quallen im Ozean. Er konnte The Oaks summen hören wie einen starken Dynamo. Doch gleichzeitig spürte er auch Gordon Holman im Nacken, der sich inzwischen weniger als zehn Meter hinter ihm befand. Jack dachte bei sich: Dreh dich um – stell dich der Auseinandersetzung – hau ihm ordentlich eins über die Rübe – du bist jetzt so stark wie er, ihr kämpft in der gleichen Gewichtsklasse.
Doch als er abbremste und sich gerade umwandte, sprang etwas auf seinen Rücken; etwas Schweres und Weiches. Dann packte ihn jemand an den Armen und ein anderer an den Beinen und ehe er sich versah, hatte man ihn auf die Knie heruntergezogen. Jack wehrte sich verzweifelt. Da tauchten sie vor seinem inneren Auge auf. Frauen, zehn oder elf wild aussehende Körper mit Haaren, die in alle Richtungen abstanden. Einige von ihnen trugen einfache Anstaltskittel, andere liefen barbusig herum, trugen lediglich Baumwollröcke oder waren sogar komplett nackt.
Sie schoben seinen Kopf nach vorne, bis sein Gesicht zwischen die Knie gedrückt wurde. Seine Arme zogen sie rücklings nach oben. Er versuchte, sich tiefer in den Boden sinken zu lassen, um ihnen zu entkommen, und stöhnte dabei vor Anstrengung. Doch eine von ihnen schob sich unter ihn – eine stämmige Nackte mit breiten Schultern, riesigen Brüsten und Blasen zwischen den Beinen, wo sie ihre eigenen Schamhaare in Brand gesetzt hatte.
Komm runter, mein Schatz!, neckte sie ihn mit einem zahnlosen Grinsen. Komm runter, du willst es doch auch!
Jack warf sich herum und wand sich verzweifelt, doch er kam nicht frei. In diesem Moment erreichte ihn Gordon Holman und baute sich über ihm auf. Er war nackt bis auf eine Zwangsjacke, die um seine Hüfte gebunden war wie ein weißer Schottenrock. Seine beiden Helfer standen ein Stück weit hinter ihm. Einer der beiden nickte ununterbrochen. Der andere bewegte sich überhaupt nicht. Er trug eine Dornenkrone auf dem Kopf und bedachte alles und jeden mit einem leeren, verklärten Lächeln wie ein verrückt gewordener Geistlicher. Aber das Merkwürdigste von allem war, dass dieses Aufeinandertreffen etwa sieben Meter unterhalb des Waldes in der Dunkelheit des mit Wurzeln durchzogenen Bodens stattfand, irgendwo zwischen Lodi und Okee unweit des Lake Wisconsin.
Quintus hat gesagt, dass du uns davon abhalten willst, unser Opfer darzubringen, erklärte Gordon Holman. Quintus sagt, du willst, dass wir bis in alle Ewigkeit in der Erde verrotten.
Quintus ist verrückt, entgegnete Jack. Das sogenannte Opfer, das ist mein Sohn.
Quintus hat gesagt, wir sollen dich töten. Töten und zum Trocknen aufhängen, das waren seine Worte! Bringt mir seine Haut! Bringt mir seine Leber!
Die fette Frau rekelte sich lasziv unter seinem Körper und leckte Jack über die Augenlider und Lippen. Angewidert drehte er sein Gesicht weg.
Ich will mit dir schlafen, während du stirbst, flüsterte sie. Ich will dich in mir spüren, während sie dich töten.