Jack zog sich auf die Leylinie zurück und schritt langsam in Richtung The Oaks. Er wandte sich um. Die Geistesgestörten folgten ihm nicht. Sie standen immer noch an Ort und Stelle und hielten die Hände vor sich. Ihre Augen waren geschlossen und ihre Gesichter vor Sehnsucht verzerrt.
Nach was kann man sich bloß so verzweifelt sehnen?, fragte sich Jack. Was ist es, das ihnen so viel bedeutet?
Er ging weiter und hielt dann inne. Seine Verfolger standen in unveränderter Haltung an der gleichen Stelle. Er zögerte, nahm dann erneut die Flöte und spielte die Melodie immer und immer wieder.
Jetzt folgten sie ihm. Sie schienen spontan erblindet zu sein, als ginge ihnen jeglicher Sinn für das Visuelle ab, mit dem sich Jack in der Schwärze der Erde orientierte. Sie schlurften blass, ängstlich und stumpfsinnig hinter ihm her wie Aussätzige aus dem Mittelalter. Obwohl Jack sich ziemlich sicher war, dass sie ihm nichts antun würden, sahen sie so verstört, wirr und seltsam aus, dass er zur Sicherheit immer schneller lief, wobei er weiter auf der Flöte spielte und stets darauf achtete, dass sie ihn nicht einholen konnten.
Lavendelblau, dideldei … die Musik drang durch den Boden und glitt die Leylinien entlang. Wo sie sich kreuzten, schwebte sie in alle Richtungen, so weich und hell wie Quecksilber.
Die Klänge erreichten The Oaks und verteilten sich überall. Sie waren hoch und schwingend wie das Lied eines Spinnennetzes, das vom Wind gestreichelt wird. Die Melodie drang nach Janesville und Watertown, nach Mineral Point, Monona und Waukesha vor.
Im ganzen südöstlichen Wisconsin hob die restliche Armee der Wahnsinnigen den Kopf, lauschte und runzelte tief unter der Erde, tief unter den Bürgersteigen in ihren Verstecken in Wänden, Decken und Möbeln die Stirn.
Der Ruf. Aber der Ruf kam viel zu früh. Tausende weiterer Leben mussten noch genommen werden, 800 von jedem. So lautete das Gesetz, das war als Preis für ihr Entkommen festgelegt.
Doch obwohl die Verwirrten ein ungutes Gefühl wegen des frühen Rufs hatten, sie konnten ihm nicht widerstehen. Der Ruf. Die gleiche traurige Flötenmusik, die immer und immer wieder ertönte. Lavendelblau, dideldei … Das älteste der heiligen Lieder des Gottes Awen, des großen Schöpfers.
Die Melodie war eine mystische Abfolge von Tönen analog zur mystischen Abfolge von Symbolen des Hexagramms. Jene, die sie hörten, fühlten sich körperlich davon angezogen und strömten durch den Boden die Leylinien entlang, auf dem gleichen Weg waren einst die Blausteine von Stonehenge aus dem alten Wales nach Salisbury Plain gelangt. Eine Reise, zu der es keine Alternative gab. Eine Reise, die angeordnet wurde.
Sie kamen, weil sie gerufen wurden.
136 von ihnen kehrten auf diesem Weg nach The Oaks zurück. Einige hinterließen Furchen auf Äckern und Straßen, einige wanderten ohne sichtbare Spuren, aber deutlich hörbar durch Läden, Wände und Apartments. Sie tanzten nicht und sie redeten nicht, im Gegensatz zu den Kindern, die dem Rattenfänger von Hameln gefolgt waren. Aber sie rannten, sie rannten mit geschlossenen Augen, als ob ihr Leben davon abhinge.
Als er am Fundament von The Oaks anlangte, hatte Jack begriffen, dass es ihm gelungen war, sie alle herbeizurufen. Er nahm sie überall um sich herum wahr, als ob er auf einer Erhebung im Boden stünde. Sie drängten von allen Seiten durch die Nacht heran – kamen mit entschlossener Miene auf ihn zu. Auf den letzten paar Kilometern hatte er genügend Selbstbewusstsein erlangt, sodass er es wagte, Gordon Holman und seinen grausigen Freunden den Rücken zuzukehren und in eigenem Rhythmus weiterzumarschieren. Er begab sich auf die Suche nach Quintus Miller.
Über dem Erdreich, in dem sie sich aufhielten, tobte ein heftiges Gewitter und Regen ging unablässig auf The Oaks nieder. Aus den kaputten Dachrinnen spritzte das Wasser heraus. Das Schwimmbad war überflutet und die Übelkeit erregende schwarze Brühe aus dem Becken sickerte über den halben Tennisplatz.
Unter der Kellertür stand Jack schließlich in der Mitte eines schweigenden Kreises, der aus den letzten Bewohnern von The Oaks bestand. Alle waren da – bis auf Quintus Miller.
Du hast uns zu dir gerufen und wir sind gekommen, sagte ein großer Mann mit einem überdimensionierten und von einer Hirnhautentzündung gezeichneten Kopf. Wo ist das Opfer?
Ich habe euch gerufen, weil wir heute Nacht Awen huldigen müssen. Jack improvisierte munter drauflos, während er verzweifelt versuchte, Quintus Miller ausfindig zu machen.
Soll das heißen, dass wir ein Opfer bringen?, erkundigte sich ein Schwarzer mit einer extrem fliehenden Stirn. Soll das heißen, dass jemand sterben wird?
Nun – ähm – ganz genau!, antwortete Jack. Jemand wird sterben. Einer von euch – um Awen zu beweisen, dass ihr dazu bereit seid, alles für ihn zu geben – einschließlich eures eigenen Lebens. Einschließlich eurer Seelen.
Die Versammlung der Wahnsinnigen stieß einige haarsträubende Angstschreie aus. Sie hörten sich an wie die Passagiere eines abstürzenden Flugzeugs. Sie hatten keine Angst davor, ihr Leben zu lassen. Schließlich bestanden sie in ihrer momentanen Erscheinungsform lediglich aus Lehm – sie waren nichts weiter als Erde. Und damit war es möglich, ihre körperliche Präsenz wiederherzustellen … vorausgesetzt, ihre Seele hatte überlebt. Wenn hingegen ihre Seele vernichtet wurde, dann blieb nur das Nichts – Schlimmeres als das Nichts: das ewige Bewusstsein der Abwesenheit von allem …
Mein Freund weiß alles über die heiligen Bräuche der Druiden …, sagte Jack. Und mein Freund sagt, dass nach der heiligen Tradition euer Anführer geopfert werden sollte. Falls ihr euch weigert, werdet ihr nie wieder erfahren, wie es ist, als freie Menschen auf der Erde herumzulaufen. Ihr werdet niemals die Erlaubnis von Awen erhalten, den Untergrund zu verlassen. Habt ihr mich verstanden? Euer Anführer steht für alle von euch … wenn ihr ihn opfert, erbringt ihr Awen den eindeutigen Beweis, dass ihr ihn verehrt … dass ihr ihm treu ergeben seid.
Jack atmete tief durch. Die feuchte Luft im Boden roch säuerlich. Jack konnte den essigartigen Geruch ausmachen, der The Oaks durchdrang. 135 grundverschiedene Gesichter blickten ihn mit geschlossenen Augen an – sie sahen ihn nicht, sondern sie spürten ihn. Einige von ihnen waren unglaublich schön, andere wiederum besaßen groteske Fratzen, die ihn an die Wasserspeier auf dem Grundstück erinnerten. Wiederum andere wirkten gewöhnlich. Für Jack ein sicheres Zeichen, dass sie umso gefährlicher waren.
Also gut …, sagte er und hob die Arme. Zuerst müssen wir Quintus Miller ausfindig machen. Habt ihr das verstanden? Und wenn ihr ihn gefunden habt, müsst ihr ihn opfern. Sonst habt ihr keine Chance – ihr werdet für immer unter der Erde gefangen sein.
Und was ist mit den 800 Leben, die eigentlich jeder von uns auslöschen sollte? Ich habe bisher erst 6 erwischt. Die Menschen über der Erde lassen sich gar nicht so leicht fangen, gab der Mann mit dem übergroßen Kopf zu bedenken.
Vergesst die 800 Leben. Es ist Quintus Miller, um den ihr euch zuallererst kümmern müsst.
Eine Frau trat vor. Ihr langes aschblondes Haar berührte wie bei Botticellis Venus fast den Boden, doch sie war ein Kind der Erde und nicht des Meeres. Sie schien auf den ersten Blick nicht älter als 30 zu sein, tatsächlich war sie aber über 90. Sie hob die Arme und flüsterte: Wieso sollten wir dir trauen? Wir haben Quintus Miller immer vertraut. Du verlangst von uns, dass wir Quintus opfern, aber willst du das vielleicht nur, weil Quintus deinen Sohn für Awen vorgesehen hat? Wer garantiert uns, dass du uns nicht betrügst und wir letztendlich niemals entkommen?