Jack antwortete: Ihr habt Quintus vertraut – und was ist passiert? Ihr seid mittlerweile seit über 60 Jahren in diesen Wänden gefangen. Quintus wird nur sich selbst retten, glaubt mir. Ihr seid Quintus völlig egal. Er will hier raus, und das ist alles, was ihn interessiert.
Er ist hier, stellte sie fest.
Was meinst du damit, ›Er ist hier‹? Wo? Ich kann ihn nicht sehen.
Er ist hier im Gebäude. Er ist hier in The Oaks. Oben. Ich kann es fühlen.
Jacks Haut prickelte. Also war Quintus schon da. Aber warum? Jack hatte eigentlich erwartet, dass er die Straßen auf der Suche nach weiteren Menschen durchkämmte, die er töten konnte, um wieder in die wahre Welt einzutreten. Er sah durch die tragende Wand nach oben, erkannte aber nichts als absolute Dunkelheit.
Wartet hier, befahl er der versammelten Gemeinde von Geisteskranken. Bereitet euch auf das große Opfer für Awen vor. Betet. Denkt an die Zeit, die ihr in der realen Welt verbracht habt. Diese Zeit kommt wieder. Aber geht nicht weg, verstanden? Ich brauche euch hier.
Wohin gehst du, Flötenspieler?, fragte Gordon. Seine Stimme klang seltsam ausdruckslos und abwesend, als ob er immer noch von der Musik wie betäubt war.
Hoch, antwortete Jack. Ich gehe nach oben.
Er stemmte sich durch das dunkelgraue Mauerwerk wie ein Taucher, der zur Oberfläche eines verschlammten Teichs durchdrang. Seine hohlen Hände bahnten ihm den Weg durch den kalten, feuchten Zement – ssssschhhhh – ssssschhhhh – ssssschhhhh. Als er durch eine Holztür glitt, spürte er gelegentlich ein Prickeln, als ob ihn Kiefernnadeln piksten.
Jack näherte sich exakt der Stelle in Quintus Millers Zimmer, an der das Hexagramm an die Wand gezeichnet worden war. Sein Gefühl sagte ihm, dass Quintus sich wohl am ehesten dort aufhalten würde, um nach einem Ausweg zu suchen.
Die Bauweise von The Oaks war extrem vertrackt. Jedes Mal, wenn Jack sich zum ersten Stock vorgekämpft hatte, fand er sich in Wänden wieder, die sich zu Torbögen krümmten und ihn zurück ins Erdgeschoss brachten. Immer, wenn er sich Quintus Millers Zimmer näherte, führten ihn die Wände mit großer Entschlossenheit wieder von dort weg.
Am Ende eines Korridors in der zweiten Etage hielt er inne und versuchte, das Gebäude in seiner Gesamtheit wahrzunehmen und seinen Symbolgehalt zu erfassen. Das Labyrinth, hatte Adolf Krüger es genannt – und das war es in der Tat.
Du bist ein Geschäftsmann, du leitest eine sehr erfolgreiche Autowerkstatt, redete Jack sich gut zu. Setz doch mal etwas Know-how aus deinem Job ein. Versuch’s mit logischem Denken. Diese Druiden lebten vor Tausenden von Jahren, aber ganz sicher sind auch sie nicht auf Ideen gekommen, die ein cleverer amerikanischer Geschäftsmann nicht durchschauen könnte.
Jack versuchte es damit, dass er von Quintus’ Zimmer wegging, so wie Alice immer in die entgegengesetzte Richtung gelaufen war, als sie versuchte, sich im Spiegelland zurechtzufinden. Doch mit dieser Methode gelangte er auf die andere Seite von The Oaks in eine der schäbigsten Ecken direkt neben der Besenkammer.
Nein, es musste eine andere Methode geben, die zum Erfolg führte, beschloss Jack. Er versuchte noch einmal, direkt zu Quintus’ Zimmer vorzudringen, doch wieder verfehlte er es um einige Meter. Es kam ihm vor, als würde er für jeden Schritt nach vorne gleichzeitig zwei zurück machen.
Vielleicht war es das. Ein Schritt vorwärts und zwei Schritte zurück. Er probierte es aus und überraschenderweise gelang es ihm so, das Ende des Gangs im ersten Stock zu erreichen. Er nahm einen weiteren Anlauf, doch diesmal verfehlte er sein Ziel wieder deutlich. Vielleicht war es eine kompliziertere Abfolge. Ein Schritt vor und zwei Schritte zurück. Und dann zwei Schritte vor und drei Schritte zurück. Dann drei Schritte vor und vier Schritte zurück.
Nach vier oder fünf Minuten hatte er des Rätsels Lösung gefunden. Ein Schritt vor und zwei Schritte zurück. Dann zwei Schritte vor und ein Schritt zurück. Er wiederholte diese Abfolge wieder und wieder und drehte sich dabei nach rechts und links, bis er ziemlich abrupt die dem Hexagramm gegenüberliegende Wand von Quintus Millers Zimmer erreichte.
Jack konnte gerade noch einen entsetzten Schrei unterdrücken.
Quintus Miller war bereits da – und Randy ebenfalls.
Miller kniete in der Wand auf der Seite des Zimmers. Er sah nicht in Jacks Richtung und war außerdem viel zu beschäftigt mit dem, was er tat.
Jack rührte sich nicht, war wie gelähmt vor Schreck und versuchte, nicht zu laut zu atmen. Quintus hatte sein Kommen offenbar nicht bemerkt – und wenn doch, dann traute er Jack so wenig zu, dass er ihn kurzerhand ignorierte.
Quintus war Jack schon unheimlich gewesen, als er ihn zum ersten Mal im Glas von Geoffs Windschutzscheibe gesehen hatte. Doch jetzt in der Wand stieß ihn seine Erscheinung sogar noch mehr ab. Quintus war klein, besaß einen monströsen Kopf, einen Stiernacken, zurückgekämmtes Haar und ein Gesicht, das so kalt aussah wie eine Maske aus lackiertem Stahl. Er trug eine schmutzige, graue Flanellhose und einen Sam-Browne-Gürtel mit Hämmern und Zangen, die daran befestigt waren. Quintus’ Rücken war übersät von krausem, grauem Haar und auf seinen Ellenbogen zeichneten sich rosa-weiße Ekzeme ab.
Doch was Quintus tat, war noch weitaus beängstigender. Er hatte Randy gezwungen, sich direkt hinter dem Hexagramm aus Blut nackt in die Wand zu stellen. Randys Arme und Beine waren gespreizt, sodass sie die Sternform, die Erde, Wind, Wasser und Feuer symbolisierte, genau nachzeichneten. Seine Handgelenke und Knöchel steckten fest, weil Quintus sie in die reale Welt gezwungen hatte – kleine Hände und Füße, die aus dem Putz herausragten.
Randys Kopf war nach vorne gesunken und ruhte an der Innenseite der Wand. Er wirkte verdreckt, strubbelig und erschöpft. Hätte Jack nicht um die Gefahren gewusst, die von Quintus Miller ausgingen, wäre er auf der Stelle losgerannt, hätte sich Randy geschnappt und ihn in die Arme geschlossen.
Und es gab einen weiteren Grund für seine Zurückhaltung: Jack rätselte nach wie vor, warum es Quintus und den anderen Wahnsinnigen gelang, durch Wände und Böden hindurchzugreifen, während Pater Bell und Randy offensichtlich in die Falle gegangen waren, als ihre Hände von einem Element in das andere übertraten. Und Jack hatte hautnah mitbekommen, was mit denjenigen passierte, die von den Psychopathen unter die Erde gezogen wurden.
Denkbar, dass Quintus und seine Anhänger aufgrund all der Jahre, die sie in den Wänden von The Oaks zugebracht hatten, zusätzliche Energien aus der Erde in sich aufgenommen hatten. Vielleicht lag es auch einfach an einem abweichenden Ritual. Laut Geoff existierten zahllose Varianten druidischer Riten, um sich von einem Element in ein anderes zu versetzen. Die meisten von ihnen waren allerdings über die Jahrhunderte in Vergessenheit geraten. Vielleicht hatte Quintus eine dieser verschollenen Methoden in Adolf Krügers Büchern wiederentdeckt – den Büchern, die mittlerweile zu Asche zerfallen waren.
Jack regte sich nicht. Er wusste nicht, was er tun sollte. Er fragte sich, ob es sinnvoll war, Quintus in das Erdreich unter dem Keller zu locken, wo sein Gefolge darauf wartete, ihn als Opfer darzubringen.
Das Problem war, dass er sich in dem Labyrinth aus Wänden immer noch nicht blind zurechtfand und Quintus ihn mit ziemlicher Sicherheit auf halber Strecke einholen würde. Selbst wenn es ihm gelang, Quintus in Richtung Keller zu locken, besaß Jack keine Garantie dafür, dass seine Anhänger ihrem langjährigen Anführer nicht in einem plötzlichen Anflug von Loyalität dabei halfen, ihn selbst in Stücke zu reißen.