Maggie stolperte mit ausgebreiteten Armen auf Jack zu. Sie erstickte fast vor Angst. »Jack, du musst uns hier rausholen. Jack! Du musst uns hier rausholen! Ich halte es nicht mehr aus! Ich halte es nicht mehr aus! Ich halte es nicht mehr aus!«
Jack packte sie am Handgelenk und hielt sie fest. »Was auch immer du tust, lass bloß nicht die Taschenlampe fallen. Schau mal – da drüben ist ein größeres Fenster. Wir könnten aufs Dach klettern – und uns dann vielleicht an den Abflussrohren hinunterlassen.«
»Ich halte es nicht mehr aus! Ich kann nicht mehr! Jack, du musst mich hier rausbringen!«
Jack schleppte sie zu dem halbrunden Fenster. Auf der Scheibe lag eine dicke Fett- und Staubschicht, doch als er mit der Hand darüberwischte, konnte er den wasserbedeckten Sims des Mansardendachs draußen erkennen. Von allen Seiten stürzte Regenwasser herab und Blitze zuckten über die Baumkronen in der Ferne wie Schlangenzungen. Jack vermied den Blick nach unten, um nicht zu sehen, wo er hintrat, aber es fühlte sich an wie ein Haufen fettiger Gummihandschuhe.
Er betätigte den Riegel, ein altmodisches Ding aus Messing, überzogen mit einer grünlichen Schicht. Er war so schwergängig, dass Jack ihn mit beiden Händen nach unten drücken musste, doch zu seiner Überraschung schwang das Fenster tatsächlich knarzend zur Seite auf. Der kalte, erfrischende Regen peitschte Jack ins Gesicht.
Er lehnte sich hinaus und kniff die Augen gegen den Regen und den Wind zusammen. Der Sims war deshalb überflutet, weil Blätter und Taubenkot aus über 60 Jahren die Abläufe verstopften. Doch wenn sie sich vier Meter auf dem Dach bis zum Ostturm vorwärtshangelten, würden sie zu einem nach unten führenden Rohr gelangen, das in der Ecke zwischen dem Turm und der Hauptwand verlief und so aussah, als könnte man relativ leicht daran herunterklettern. Ungefähr jeden Meter befand sich eine Halterung an der Wand und es gab genügend Möglichkeiten, sich festzuhalten. Er wandte sich wieder an Maggie. »Siehst du das? Siehst du das Abwasserrohr?«
»Was?«, fragte sie ihn mit fest geschlossenen Augen, während sie sich die Ohren zuhielt.
»Maggie, schau mich an! Hör mir zu! Siehst du das Abwasserrohr? Da – in der Ecke?«
Sie sah kurz hin und nickte dann.
Jack legte ihr die Hand auf die Schulter und sagte: »Du musst einfach – am Sims entlangklettern – okay? Halt dich mit der Hand am Dach fest – und dann kletterst du an dem Rohr nach unten. Und rennst weg. Hast du mich verstanden?«
Maggie nickte. Ihre Augen waren immer noch fest zusammengekniffen.
»Maggie, verdammt noch mal, verstehst du mich? Du musst das Rohr runterklettern!«
»Ja! Ja! Ja!«, schrie sie ihn an. »Ja, ich verstehe!«
»Also gut, dann los! Randy ist der Nächste, dann Karen.«
Maggie öffnete die Augen und starrte Jack entsetzt an. Ihre Pupillen waren vor Schock auf Stecknadelgröße geschrumpft. »Ich kann es nicht!«, brüllte sie. »Wie kannst du von mir verlangen, dass ich so was tue?«
Mit entsetzter Stimme unterbrach Karen die Diskussion der beiden »Jack – da bewegt sich was. Jack, bitte beeil dich! Da ist etwas!«
Jack packte Maggie am Handgelenk und half ihr – na ja, er schubste sie – aus dem Fenster. Maggie stand bis zu den Knöcheln im Wasser. Ihr Mantel flatterte im Wind. Die Augen hatte sie geschlossen und presste ihre Hände an die Dachziegel.
»Klettere los!«, schrie Jack ihr zu. »Klettere bis zur Ecke – und dann das Rohr nach unten!«
Maggie nickte stumm und arbeitete sich Zentimeter um Zentimeter voran. Während sie mit den Händen tastete, bewegte sie sich Schritt für Schritt zur Seite. Jack sah ihr ungeduldig zu, wie sie sich zögerlich zur Ecke des Turms hin kämpfte. Dort hielt sie inne und setzte mit geschlossenen Augen einen Fuß nach hinten.
»Zieh die Schuhe aus!«, befahl ihr Jack. »Und mach die Augen auf, verdammt noch mal!«
Er drehte sich zu Randy um, der blass war und in Geoffs riesigem braunen Sweater zitterte. »Also, was meinst du, Raumflieger? Glaubst du, du schaffst das? Am Sims bis zur Ecke zu klettern und dann die Rinne nach unten? Du musst nur vorsichtig sein und dich gut festhalten.«
»Yes, Sir«, antwortete Randy zitternd. Jack hob ihn aus dem Fenster, woraufhin der Junge seiner Mutter in den Regen folgte. Seine Füße spritzten das Wasser aus dem überfluteten Sims.
Gott, das ist mein Junge, dachte Jack. Ganz souverän. Er weiß ganz genau, was zu tun ist.
Jack leuchtete mit der Taschenlampe zurück auf den Dachboden. Er versuchte, die grässlichen Haufen glänzenden Fleischs nicht so genau anzusehen. Karen kämpfte sich mit gerümpfter Nase zu ihm durch. An ihren Beinen klebte verwesende Brühe.
Jack streckte ihr eine Hand entgegen. »Komm schon, Schatz, wir werden es schaffen. Mach schnell!«
Doch kaum drei Meter hinter ihr erbebten plötzlich die Haufen menschlicher Überreste. Etwas bahnte sich den Weg von unten herauf. Ein Wust aus glänzenden Därmen schlängelte sich schnell, aber widerstrebend zur Seite, zu Sülze gewordenes Fleisch machte Platz für den Angreifer. Schädel erhoben sich und sanken wieder hinab, als ob sie von einer Flutwelle mitgerissen wurden. Der Boden von Quintus Millers Schlachthaus schien fast zu kochen, als eine mächtige energetische Welle auf sie zugerollt kam – eine Welle, wie sie nur von einem rachsüchtigen, unerbittlichen Wahnsinnigen verursacht werden konnte, der unaufhaltsam durch den Boden auf sie zuschwamm.
»Schneller!«, schrie Jack. Karen wandte sich um und stieß nur ein kurzes »Ah!« aus.
»Schneller!«
Karen streckte die Hand nach ihm aus – »Jack, bitte!«, keuchte sie panisch und verzweifelt. Ihre Hände zitterten und die blonde Perücke, die sie trug, war verrutscht. In ihrem Gesicht spiegelte sich das blanke Entsetzen. Sie hatte ihn schon fast erreicht, als sie ausrutschte, stolperte und auf die Knie fiel.
In diesem Moment bohrten sich Quintus Millers gierige Hände aus der blutigen Masse zerfallener Körper, umfassten Karen an den Knöcheln und rissen sie mit sich.
»Karen! Halt durch!«, brüllte Jack und machte sich auf den Weg zu ihr durch die verwesten Leichen.
Karen schrie und schlug um sich. Doch Quintus zog sie immer weiter weg. »Halt durch! Tritt weiter um dich!«, ermutigte Jack sie lautstark.
Doch da erschien Randys blasses Gesicht am Fenster. Sein Haar war klatschnass, der vom Regen durchnässte Pullover triefte. Mit schriller Stimme schrie er: »Daddy! Daddy! Mami stürzt ab! Daddy, komm schnell!«
Entsetzt sah Jack zu Karen, dann wieder zu Randy.
»Bitte, Daddy – Mami stürzt ab! Sie kann sich nicht mehr halten!«
»Ja-a-a-cckkk!«, schrie Karen.
Jack tat drei schwere, schmatzende Schritte auf Karen zu. Sie wurde mit dem Gesicht nach unten über den Boden geschleift, immer weiter auf die Falltür zu. Karen hob ihren Kopf aus der klebrigen Masse. Ihr Gesicht war zu einer starren Maske absoluten Entsetzens verzerrt.
»Daddy!«, wimmerte Randy. »Daddy bitte!«
Jack sah zum Fenster, dann wieder zu Karen und noch einmal zum Fenster. Dann begrub er sein Gesicht mit den Händen und stieß einen qualvollen Schrei nackter Verzweiflung aus.
Er wusste nicht, weshalb er sich entschloss, Karen den Rücken zuzukehren. Es war keine bewusste Entscheidung. Doch ehe Jack sich versah, watete er wieder zum Fenster zurück.