Jaina rieb sich die schmerzenden Augen. „Ich entschuldige mich noch einmal. Ich glaube, Kalec könnte gerade den Grund dafür beschrieben haben, warum wir noch nicht fündig geworden sind.“ Sie sprach ganz betont, um den anderen zu zeigen, dass sie wusste, wie sie eben geklungen hatte.
„Ich glaube nicht, dass …“, begann Kinndy.
„Du bist jung“, sagte Tervosh. „Du brauchst keine Pausen. Wir alten Leute hingegen müssen uns hin und wieder ausruhen. Falls du also weiter diese Dokumente durchforsten möchtest, nur zu, aber ich werde jetzt ein wenig im Garten arbeiten. Da gibt es noch ein paar Kräuter, die gepflückt werden wollen.“
Er erhob sich, und als er mit der Hand gegen sein Kreuz drückte, erklang ein deutliches Knacken. Jaina wusste, dass auch ihre Knochen knirschen würden, wenn sie nach den endlosen Stunden des Sitzens aufstand. Sie und Tervosh waren keine „alten Leute“, wie er scherzhaft gesagt hatte, aber die scheinbar unermüdliche Energie der Jugend, die sie durch die schwierigen Zeiten der Seuche und des Krieges mit den Dämonen getragen hatte, schien sie nun, da sie die Dreißig erreicht hatte, verlassen zu haben.
„Möchtet Ihr mich vielleicht ein wenig herumführen?“ Kalecs Frage schnitt in ihre Gedanken.
Sie blinzelte. „Oh! Ja, natürlich!“ Sie erhob sich und versuchte, ihre Scham darüber zu verbergen, dass man sie beim Tagträumen ertappt hatte. „Ich bin sehr stolz auf die Ordnung und die Harmonie, die hier in Theramore herrschen. Der Kataklysmus hat die Stadt zwar beschädigt, aber wir haben sie entschlossen wiederaufgebaut.“
Sie stiegen die lange, geschwungene Treppe von Jainas Turm hinab und traten dann in einen überraschend sonnigen Tag hinaus. Lady Prachtmeer nickte erst den Wachen zu, die zackig vor ihr salutierten, und dann Leutnant Aden, der auf seinem Pferd saß. Kalecgos blickte sich mit offenem Interesse um.
„Dort drüben liegt die Wehrzitadelle“, erklärte Jaina. Als sie weitergingen, sahen sie rechts von sich einen Übungsplatz, auf dem die Wachen von Theramore gegen Attrappen „kämpften“, und das dumpfe Geräusch, mit dem ihre Schwerter gegen das Holz stießen, begleitete die beiden kurze Zeit, bevor das Klirren von Stahl gegen Stahl, das von links herbeischallte, es übertönte. Dort trainierten die jungen Rekruten an der frischen Luft, während ihre Kommandanten ihnen Befehle zubrüllten und Priester sie aufmerksam beäugten, dazu bereit, vom Heiligen Licht zu zehren, um jeden zu heilen, der sich verletzte.
„Das ist ziemlich … martialisch“, kommentierte Kalec.
„Auf einer Seite der Stadt befindet sich der Zugang zu einem äußerst gefährlichen Sumpf, und auf der anderen liegt das Meer“, sagte Jaina. Sie setzten ihren Spaziergang fort, und die übenden Soldaten verschwanden außer Sicht, als sie ein Gasthaus passierten. „Es gibt viel, wogegen wir uns verteidigen müssen.“
„Ihr sprecht sicher von der Horde.“
Sie warf ihm einen bedeutsamen Blick zu. „Wir sind zwar die größte militärische Macht der Allianz auf diesem Kontinent, aber, um ehrlich zu sein, wir machen uns mehr Sorgen um wilde Tiere und verschiedene zwielichtige Gestalten.“
Kalec hob die Hand vor seine Brust und riss die Augen in gespieltem Schrecken auf. Jaina lächelte. „Keine Sorge. Die einzigen Drachen, mit denen ich Ärger habe, sind die schwarzen Drachen im Sumpf“, erklärte sie. „Die Horde lässt uns in Ruhe, solange wir auch auf Distanz bleiben. Das ist eine Übereinkunft, mit der ich leben kann, selbst dann noch, wenn viele das nicht verstehen wollen.“
„Drängt die Allianz auf einen Krieg?“, fragte Kalec leise, und Jaina schnitt eine Grimasse.
„Ah, da habt Ihr einen wunden Punkt getroffen“, sagte sie. „Lasst uns später darüber sprechen. Wie ergeht es denn dem blauen Schwarm, Kalec? Die meisten Magier hassen ihn, so wie Kinndy es tat, aber ich weiß, dass Ihr viel durchleiden musstet. Erst den Nexuskrieg, dann habt Ihr einen neuen Aspekt gesucht und wieder verloren, und jetzt dieser Diebstahl …“
„Nun habt Ihr einen wunden Punkt berührt“, entgegnete Kalec, doch seine Stimme klang sanft.
„Verzeiht“, entschuldigte sich Jaina. Ihr Weg führte sie aus der Stadt hinaus, wo das Kopfsteinpflaster weniger gepflegt und der Boden leicht schlammig war. „Ich wollte Euch nicht beleidigen. Seht mich nur an – und ich soll eine Diplomatin sein.“
„Ich fühle mich nicht beleidigt. Außerdem zeichnet es einen guten Diplomaten aus, dass er deutlich erkennt, was sein Gegenüber beschäftigt“, bemerkte Kalec. „Es war in der Tat schwer für uns. So viele Zeitalter gehörten wir zu den mächtigsten Wesen in Azeroth. Wir allein hatten die Aspekte, die über unsere Schwärme und die ganze Welt wachten. Selbst die niedersten unserer Rasse lebten so lange, dass wir Euch unsterblich erscheinen mussten, und wir hatten Fähigkeiten, die vielen Drachen ein Gefühl der Überlegenheit gaben. Todesschwinge hat uns gelehrt – wie lautet noch gleich die Wendung, die Ihr Menschen benutzt? –, kleinere Kuchen zu backen.“
Jaina musste an sich halten, um nicht zu kichern. „Ich glaube, der richtige Ausdruck ist ‚kleinere Brötchen‘.“
Leise lachte er. „Es scheint, obwohl ich die jüngeren Rassen mehr schätze als die meisten meiner Brüder, habe ich doch noch viel zu lernen.“
Jaina winkte ab. „Menschliche Umgangssprache gehört sicher nicht zu den wichtigsten Dingen, die Ihr lernen müsst“, entgegnete sie.
„Ich wünschte, ich könnte sagen, dass ich im Augenblick nichts Wichtigeres zu tun hätte“, erwiderte Kalec, und damit wurde er wieder ernst.
„Halt!“, rief da eine schneidende Stimme. Als sich ihnen mehrere Wachen mit gezückten Schwertern und Äxten näherten, blieb Kalecgos stehen und blickte Jaina überrascht an. Doch dann hob die Lady den Arm, und da erkannten die Uniformierten sie. Hastig steckten sie ihre Waffen wieder fort und verbeugten sich, während einer von ihnen, ein hellhaariger, bärtiger Mann, vor ihr salutierte.
„Lady Jaina“, sagte er. „Man hatte mir nicht gesagt, dass Ihr und Euer Gast hierherkämet. Wünscht Ihr, dass Euch eine Eskorte begleitet?“
Die beiden Magier tauschten einen leicht amüsierten Blick. „Danke, Hauptmann Wymor! Ich weiß das Angebot zu schätzen, aber ich glaube, dieser ehrenwerte Herr ist durchaus in der Lage, mich zu beschützen“, erklärte Jaina, ohne eine Miene zu verziehen.
„Wie Ihr wünscht, Mylady.“
Kalec wartete, bis sie außer Hörweite der Wachen waren, bevor er mit ganz und gar ernster Stimme bemerkte: „Ich weiß nicht, Jaina; vielleicht bin ich derjenige, der gerettet werden muss.“
„Nun, dann werde ich eben Euch retten“, erwiderte Jaina, deren Gesicht jetzt ebenso ernst war wie seines.
Kalec seufzte. „Das tut Ihr doch schon“, murmelte er leise.
Sie blickte ihn an, die Stirn in Falten. „Ich helfe Euch“, erklärte sie. „Aber ich rette Euch nicht.“
„Auf gewisse Weise schon. Und nicht nur Ihr, Jaina. Ihr alle. Wir … wir sind nicht mehr das, was wir einmal waren. Alles, was ich will, ist, meinen Schwarm zu beschützen und mich um ihn zu kümmern.“
Da verstand Jaina plötzlich. „So, wie Ihr Anveena beschützen wolltet.“
Ein Muskel an seiner Wange zuckte, doch er hielt in seinen Schritten nicht inne. „Ja.“
„Ihr habt sie nicht im Stich gelassen.“
„Doch, das habe ich getan. Sie wurde gefangen genommen und benutzt.“ Kalecs Stimme war rau vor Zorn auf sich selbst. „Durch sie wollte man Kil’jaeden zurück nach Azeroth bringen. Und ich konnte sie nicht retten.“
„Falls ich richtig unterrichtet bin, hattet Ihr keinen Einfluss auf diese Ereignisse“, erwiderte Jaina mit sanfter Stimme. Sie wollte sich langsam vorarbeiten, denn sie war nicht sicher, wie viel Kalecgos mit ihr teilen würde. „Ihr wart selbst von einem Schreckenslord befallen, und nachdem Ihr Euch von dieser grausigen Existenz befreit hattet, seid Ihr sogleich zu ihr geeilt.“