„Aber ich konnte nichts tun. Ich konnte nicht verhindern, dass sie ihr Leid zufügten.“
„Oh, doch, das habt Ihr“, sagte Jaina, die das Thema nicht auf sich beruhen lassen wollte. „Ihr habt Anveena erlaubt, das zu werden, was sie wirklich war – der Sonnenbrunnen. Und nur durch Eure Liebe und ihren Mut konnte Kil’jaeden besiegt werden. Ihr seid selbstlos genug gewesen, ihr nicht ihr Schicksal zu verwehren.“
„Und es war den Aspekten vorbestimmt, ihre Mächte für den Sieg über Todesschwinge zu opfern, ich weiß“, brummte Kalec. „Es ist nicht falsch, was geschah. Aber … es ist hart. Es ist hart, sehen zu müssen, wie andere ihre Hoffnung verlieren, und …“
„Und zu wissen, dass Eure Hoffnung ebenfalls schwindet?“
Er wirbelte herum und sah sie an. Kurz fürchtete sie, zu weit gegangen zu sein, aber was sie in seinen Augen sah, war nicht Zorn, sondern Verzweiflung. „Ihr“, begann er, „seid längst nicht so alt wie ich. Wie kann es sein, dass Ihr es versteht, so tief in andere hineinzusehen?“
Sie hängte sich bei ihm ein, als sie weitergingen. „Weil ich mit denselben Problemen ringe.“
„Warum seid Ihr hier, Jaina?“, fragte er, und ihre goldene Augenbraue wanderte ob der Forschheit dieser Frage nach oben. „Ich habe gehört, dass Ihr zu den besten Magiern des Ordens gezählt wurdet. Warum seid Ihr nicht in Dalaran? Warum hier, zwischen einem Sumpf und einem Ozean, zwischen der Horde und der Allianz?“
„Weil jemand hier sein muss.“
„Wirklich?“ Seine Stirn lag in Falten, als er stehen blieb und sie zu sich herumdrehte.
„Natürlich!“, erwiderte sie schroff. Wut stieg in ihr hoch. „Wollt Ihr etwa einen Krieg zwischen der Allianz und der Horde, Kalec? Vertreiben die Drachen sich dieser Tage damit die Zeit? Herumzufliegen und Ärger heraufzubeschwören?“
Ihre Worte waren wie ein Schlag, und der Schmerz in seinen blauen Augen zeigte, dass dieser Hieb getroffen hatte. Sie zuckte zusammen. „Es tut mir leid. Ich habe es nicht so gemeint.“
Kalec nickte. „Was habt Ihr dann gemeint?“, fragte er, doch nun lag kein Zorn mehr in seiner Stimme.
Stumm starrte sie ihn an. Sie wusste es nicht. Doch dann brachen die Worte aus ihrem Inneren hervor. „Ich wollte nicht mehr Teil des Ordens sein, nachdem Dalaran gefallen war. Nachdem so viele gestorben waren. Nachdem … Antonidas gestorben war. Arthas ermordete ihn, Kalec. Er tötete so schrecklich viele. Der Mann, von dem ich einst geglaubt hatte, dass ich ihn einmal heiraten würde. Den ich geliebt hatte. Ich konnte … konnte dort nicht bleiben. Ich hatte mich verändert, und die Kirin Tor waren auch nicht mehr dieselben. Sie sind nicht einfach nur neutral … Ich glaube, sie schauen auf alle herab, die nicht zu ihnen gehören, und vermutlich bemerken sie es nicht einmal. Ich habe aber gelernt, dass man den Frieden nur dann wirklich fördern kann, wenn man die Leute auch anerkennt – und zwar alle. Davon abgesehen habe ich ein gewisses diplomatisches Talent, auch wenn ich selbst am allerwenigsten damit gerechnet hätte“, erklärte sie ernst.
Der Schmerz war wieder von einem gütigen Gesicht verschwunden, und er hob die Hand, um ihr goldenes Haar zu streicheln, fast so, als würde er ein kleines Kind trösten. „Jaina?“, fragte er. „Falls Ihr das glaubt – und ich sage nicht, dass Ihr Euch irrt –, warum müsst Ihr dann noch versuchen, Euch selbst davon zu überzeugen?“
Das war es. Er hatte den Dolch in ihr Herz gestoßen, scharf und kalt und dabei so qualvoll, dass sie wie unter einem echten Schlag keuchte. Sie starrte zu ihm hoch, unfähig, ihren Blick abzuwenden. Die Tränen stachen in ihren Augen.
„Sie wollen nicht auf mich hören“, wisperte sie, so leise, dass man es kaum hören konnte. „Niemand will auf mich hören. Nicht Varian, nicht Thrall und erst recht nicht Garrosh. Ich habe das Gefühl, allein an einer Klippe zu stehen, und der Wind reißt mir die Worte von den Lippen, noch während ich sie ausspreche. Ich spüre, dass, ganz gleich, was ich tue oder sage, alles … sinnlos ist. Es wird nichts ändern. Ich … werde nichts ändern.“
Während sie sprach, sah sie, wie ein trauriges Lächeln der Verbundenheit Kalecs Lippen streifte.
„Wir haben also noch etwas gemeinsam, Lady Jaina Prachtmeer“, entgegnete er. „Wir fürchten, dass wir nichts tun, nicht helfen können. Dass alles, was wir je getan haben, sinnlos war.“
Die Tränen rannen über ihre Wangen, und er wischte sie sachte fort. „Aber eines weiß ich. Diese Dinge unterliegen einem Rhythmus, einem Kreislauf. Nichts bleibt ewig gleich, Jaina. Nicht einmal wir Drachen, die wir so langlebig und angeblich auch so weise sind. Wie sehr müsst erst Ihr Menschen Euch dann wandeln? Einst seid Ihr eine junge Schülerin gewesen, neugierig und strebsam, zufrieden damit, in Dalaran zu leben und Zauber zu erlernen. Dann riss Euch die Welt aus Eurem sicheren Heim heraus. Ihr habt Euch verändert. Ihr habt überlebt, und in Eurer neuen Rolle als Diplomatin seid Ihr aufgeblüht. Noch immer gab es Fragen und Herausforderungen, doch nun waren sie von einer anderen Art. Und so habt Ihr einen Nutzen erfüllt. Diese Welt …“ Er schüttelte den Kopf und blickte zum Himmel hoch. „Diese Welt ist nicht mehr das, was sie einmal war. Alles, jeder hat sich verändert. Hier – lasst mich Euch etwas zeigen.“
Er hielt die Hand in die Höhe, und als sich seine langen, gelenkigen Finger bewegten, stob arkane Energie von ihren Kuppen. Sie formte einen wirbelnden Ball, der vor ihnen in der Luft schwebte.
„Seht Euch das an“, forderte er sie auf.
Jaina betrachtete den Ball, und als sie ihre törichten Tränen – wo kamen sie überhaupt her? – niederzwang, wurden die Muster darauf klarer. Einen Moment lang fragte sie sich, gleichermaßen verblüfft und fasziniert, ob sie wirklich eine Kugel aus Energie betrachtete oder doch eher einen gnomischen Schaltplan. Zeichen und Symbole huschten umher, dann flossen sie zusammen und ordneten sich in einer bestimmten Formation an.
„Es ist … wunderschön“, hauchte sie.
Kalec spreizte die Finger und schob seine Hand durch den Ball. Als wäre es ein Nebelgespinst, das er aufgewirbelt hatte, wallte die Kugel auseinander, allerdings nur, um sich auf neue Weise zusammenzusetzen. Sie veränderte ihr Aussehen unablässig, ein Kaleidoskop der Magie, voller präziser Muster und Anordnungen.
„Versteht Ihr, Jaina?“, fragte er. Weiterhin starrte sie wie hypnotisiert auf diesen wundersamen Ball, dessen Muster sich anordneten, zerbrachen und eine neue Form annahmen.
„Das … ist mehr als ein Zauber“, sagte sie schließlich.
Er nickte. „Es ist das, woraus Zauber gemacht sind.“
Einen Moment lang verstand sie nicht, was es bedeuten sollte. Bei Zaubern ging es um Sprüche, Gesten, manchmal auch um Reagenzien – und dann traf sie die Erkenntnis mit einer solchen Wucht, dass sie beinahe gestolpert wäre.
„Es ist … Mathematik!“
„Gleichungen. Theoreme. Ordnung“, bestätigte Kalec zufrieden. „Auf eine Weise verbunden, bedeuten sie das eine – doch setzt man sie anders zusammen, stehen sie für etwas vollkommen anderes. Sie sind immer gleich und doch stets anders, so wie das Leben. Alles verändert sich, Jaina, ob nun durch äußere Einflüsse oder von innen heraus. Und manchmal reicht eine winzige Änderung in der Gleichung schon aus.“
„Dann … sind wir also auch Magie“, flüsterte Jaina. Sie riss die Augen von dem unbeschreiblich schönen Wirbel aus lyrischer, poetischer Mathematik los und setzte zu einer Frage an.
„Lady Jaina!“
Der Ruf erschreckte sie beide, und als sie sich umdrehten, sahen sie Hauptmann Wymor auf einem rotbraunen Pferd herbeireiten. Er zerrte so hart an den Zügeln, dass sich das Tier aufrichtete und auf das Zaumzeug biss.
„Hauptmann Wymor, was …“, begann Jaina, bevor ihr die Wache das Wort abschnitt.
„Die Leidende ist mit Neuigkeiten zurückgekehrt“, berichtete er, nach dem kurzen, aber gehetzten Galopp noch keuchend. „Die Horde – sie sammelt sich. Ihre Truppen sind von Orgrimmar und Ratschet aus losgezogen, ebenso von Mulgore. Es sieht aus, als würden sie alle auf die Feste Nordwacht zumarschieren!“