Baine schlug jedoch nicht vor, dass seine Leute die Vorfahren um ihren Segen für die kommende Schlacht bitten sollten. Die alten Tauren wären mit so etwas gewiss nicht einverstanden gewesen. Er dachte an Cairne Bluthuf: Nein, der hätte einem solchen Vorhaben niemals seinen Segen gegeben. Eine Mischung aus wilder Kampfeslust und Beunruhigung herrschte unter den Trollen und Tauren, als sie sich versammelten, und Baine, der seine Leute gut kannte, konnte ihren inneren Konflikt spüren. Einen Konflikt, der auch im Herzen ihres Anführers wütete.
Nach ein paar Sekunden – in denen einige Gesänge anstimmten, andere sich zum Gebet hinknieten und wieder andere einfach nur respektvoll dastanden – wurde es Zeit, sich wieder auf den Weg zu machen. Der Große Graben klaffte zu ihrer Linken, und der Pfad neigte sich ein wenig, bevor er sie in eine wellige Hügellandschaft führte.
„Sieht aus, als hätt’n wir Glück gehabt“, meinte Vol’jin.
„Ich glaube nicht, dass irgendwelche Späher es noch geschafft haben, sie zu warnen“, sagte Baine grimmig.
Vol’jin blickte von seinem Raptor zu dem Tauren auf. „Sie hab’n Camp Taurajo zerstört, Freund“, erinnerte er ihn.
„Ja“, nickte Baine. „Sie haben ein militärisches Ziel ausgeschaltet. Aber ihr General hat sich geweigert, die Zivilisten niederzumetzeln. Er hätte jederzeit den Befehl geben können, sie alle abzuschlachten, doch er hat es nicht getan.“
Vol’jins Augen wurden schmal. „Wirst du den Leuten der Allianz dieselbe Gnade erweis’n?“
„Ich glaube nicht, dass es in der Festung Zivilisten gibt“, entgegnete Baine. Falls er Gefangene nehmen sollte, da war er sich sicher, würde Garrosh ihm ohnehin befehlen, sie hinzurichten. Aber das sprach er nicht laut aus. Ja, es war eine militärische Einrichtung, und dass der Kriegshäuptling sie zu ihrem ersten Ziel erklärt hatte, zeugte von guter taktischer Führung.
Das Problem war nur, Garrosh war an der Feste nicht als einem militärischen Ziel interessiert. Der Allianz die Kontrolle über die Nordwacht zu entreißen, war für ihn weniger eine Strategie, sondern vielmehr ein Sprungbrett. Sein echtes Ziel war Theramore. Dort hatte die Allianz zahlreiche Soldaten und Seemänner stationiert. Doch gab es hier auch ein Gasthaus und viele Händler und Familien, die in der Stadt lebten. Ebenso wie die eine, die Baine Bluthuf stets gerecht und freundschaftlich behandelt hatte.
Sie umrundeten eine Biegung des Weges, und als sich das Gelände vor ihnen öffnete, konnte der Taurenhäuptling in der Ferne grauen und weißen Stein sehen: die Türme der Nordwacht. Er hob eine Hand, woraufhin der Heereszug stehen blieb, um sich auf den Sturmangriff vorzubereiten – und fast gleichzeitig wurde die Stille des Brachlandes von Gewehrfeuer zerrissen. Die Trolle und Tauren reagierten sofort, indem sie ihre eigenen Gewehre und Pfeile auf die Allianzsoldaten richteten, die aus der Richtung der Hügel angriffen.
Wut wallte in Baine hoch. Er hätte damit rechnen müssen, doch er hatte sich von dem falschen Gefühl der Sicherheit einlullen lassen, und jetzt fielen seine Leute, wo sie gestanden hatten, und zahlten den Preis für seine Torheit.
„Vorwärts!“, schrie er, und seine vom Zorn noch verstärkte Stimme hallte weithin. „Schamanen! Unterbrecht ihr Feuer!“
Die Schamanen gehorchten, während die übrigen Trolle und Tauren losstürmten, so schnell ihre Füße sie trugen. Einen Augenblick später wurden die Schützen der Allianz auch schon durch plötzlich heranpeitschende Windböen von den Füßen gerissen, und einige andere kreischten vor Schmerzen, als ihre Kleider in Flammen aufgingen. Der Versuch der Menschen, sich neu zu gruppieren, endete in völligem Durcheinander, denn inzwischen hatten die Krieger von Mulgore bereits die Straße zur Feste erreicht und stürzten sich blutdürstig in die Schlacht.
„Die Tauren sind hier!“
Der Ruf wanderte die Reihen der Orcs entlang, während sie von Norden aus auf die Festung der Allianz zumarschierten. Diesen Worten folgte lauter Jubel. Garrosh, der Blutschrei über dem Kopf schwang, während er persönlich den Angriff anführte, gönnte sich einen Moment, um Malkorok zuzugrinsen. Er konnte das Geräusch hören, mit dem die gewaltigen Felsbrocken gegen die ohnehin schon beschädigten Mauern der Feste prallten, und dann warf er den Kopf zurück, um einen freudigen Schrei auszustoßen.
Er wünschte sich, diesen Plan schon viel früher umgesetzt zu haben. Der Kataklysmus hatte einige der Mauern der Burg zum Einsturz gebracht, und die Narren der Allianz hatten nicht einmal versucht, sie wieder richtig aufzubauen. Jetzt würden sie es bitterlich bereuen und für dieses Versäumnis mit Blut bezahlen.
Die Orcs stürmten über die behelfsmäßigen Brücken aus Felsen und Planken. Eine Wache rannte ihnen entgegen, direkt auf Garrosh zu. Es war ein Mensch, stark und schnell und im Umgang mit seiner Waffe erfahren, aber gegen die Kor’kron, die einen Kreis um den Kriegshäuptling bildeten, hatte er keine Chance. Die Orcs brüllten ihre Kriegsschreie hinaus, während sie sich auf ihn stürzten, mit ihren Schwertern auf ihn einhieben und mit ihren Streitkolben seinen von Metall umhüllten Körper zermalmten. Einer dieser Hiebe traf mit einem so lauten Knacken, dass es selbst über den Lärm der Trommeln, der Kämpfe und des Kanonenfeuers noch zu hören war. Danach sank die Wache zu Boden. Die Kor’kron und Garrosh stürmten über seinen gefallenen Körper hinweg, aber im Vorbeirennen gewährte der Kriegshäuptling dem Toten ein anerkennendes Nicken.
Die Donnerschreiorcs hatten ihnen sämtliche Schwachstellen der Feste aufgezählt, Garrosh wusste also ganz genau, wohin er seine Leute zu führen hatte. Die erste Welle schlug sich ausgezeichnet und stürmte die Straßen zu den Hofbereichen hinauf, während der Kriegshäuptling auf eine erhöhte Position kletterte, um die Lage abzuschätzen.
Links von ihm kamen die Schiffe der Blutelfen, Goblins und Verlassenen näher, genauso wie geplant. Trotz des Kanonendonners, der klang, als würde die Allianz ohne Unterlass feuern, hatten es mehrere Beiboote bereits an Land geschafft, und ihre Insassen rannten nun auf ihre Feinde zu und streckten sie gnadenlos nieder.
Zu seiner Rechten hämmerten die Trolle und Tauren derweil unermüdlich auf die Mauern ein, und während Garrosh noch hinüberblickte, brach eine von ihnen in sich zusammen, woraufhin eine Woge brauner, fellbedeckter oder blauhäutiger Leiber durch die Bresche strömte.
Unmittelbar vor ihm waren schließlich die Orcs – seine Orcs, sein Volk, die einzig wahren und ursprünglichen Mitglieder der Horde – und metzelten und schrien und lachten.
Es sollte nicht mehr als eine Stunde dauern, die Schlacht zu entscheiden; dann wären seine Krieger tief genug in die Feste vorgedrungen, dass keine schlaue List und keine verzweifelte Strategie von Admiral Aubrey die Angreifer noch zurückdrängen konnte. Doch Garrosh hatte nicht vor, so lange zu warten. Sein Blick huschte über das Kampfgeschehen hinweg. Der Großteil seiner Armee war weitergestürmt, nur ein paar Orcs waren hier am Rande der Schlacht zurückgeblieben, um die Wachen auszuschalten, die noch versuchten, den Angreifern den Weg in die Festung zu versperren. Sie würden keine weiteren Brücken bauen müssen.
Es war Zeit, den finalen Schlag anzubringen und diese Schlacht mit einem schnellen, entschlossenen Sieg zu beenden.
Ein paar Fuß unter ihm kämpfte Malkorok gerade mit drei Wachen – zwei Menschen, einer von ihnen war ein Mann, der andere eine Frau, sowie einem Zwerg. Die meisten Orcs bevorzugten große Waffen wie beidhändige Breitschwerter, schwere Äxte oder Hämmer, doch der Schwarzfelsorc benutzte in der Schlacht lieber zwei kleine, aber scharfe Äxte, die sich wunderbar schnell wirbeln ließen. Als die drei auf ihn zustürmten und ihn zu umzingeln versuchten, lachte er vor Hohn. „Tod der Allianz!“, brüllte er, nach vorn gebeugt und grinsend, dann schnellte er vor, viel schneller, als seine Gegner erwartet hatten. Die Äxte verschwammen in der Luft, zwei glänzende Wirbel des Todes. Bevor sie überhaupt wusste, wie ihr geschah, hatte er die glücklose Menschenfrau bereits fast in zwei Teile gehackt, aber Malkorok wurde danach nicht langsamer. Stattdessen wirbelte er herum und ließ dem Hieb mit der einen Axt einen Schlag mit der anderen folgen. Der Zwerg konnte zwar noch mit seinem Schwert ausholen, aber die Klinge prallte von Malkoroks Rüstung ab, ohne Schaden anzurichten, und dann hatte ihm der Orc seine Axt auch schon tief in die ungeschützte Stelle zwischen Hals und Schulter gerammt. Während der Zwerg zusammenbrach, drehte Malkorok seinen Körper und wirbelte erneut die beiden Äxte; dass ihm an einer Hand zwei Finger fehlten, behinderte ihn dabei in keiner Weise. Die männliche Menschenwache riss ihr Schwert hoch, um die Schläge zu parieren, doch sie konnte nur einen abwehren. Mit einem Brüllen hob Malkorok die zweite, blutbesudelte Axt über den Kopf und begrub sie in der Brust des Mannes.