Das Gnomenmädchen nickte. Sie war müde, so wie sie alle; ihr rosafarbenes Haar war schlampig zu Zöpfen gebunden, und unter ihren großen Augen lagen dunkle Ringe. Tervosh wirkte um Jahre älter, als er eigentlich war, und selbst Kalec hatte die Lippen zu einer schmalen Linie zusammengepresst. Jaina wollte gar nicht wissen, wie sie aussah. In letzter Zeit hatte sie einen großen Bogen um jeden Spiegel gemacht.
Ihre Stirn furchte sich, während sie sich der nächsten Schriftrolle zuwandte, dann legte sie sie abrupt beiseite und starrte die anderen an. „Kinndy hat recht: Es gibt keine bekannten Aufzeichnungen über einen Zauber, der bewirken kann, was gerade geschieht. Aber weil es gerade geschieht, muss doch irgendjemand einen Weg gefunden haben. Er verbirgt das Artefakt vor Kalecgos. Und ich weigere mich einfach, zu glauben, dass wir nichts dagegen unternehmen können!“ Sie schlug mit der Hand auf den Tisch, woraufhin ihre Mitstreiter sie erschrocken anblickten. Sonst hatte Jaina eigentlich niemals solche Gefühlsausbrüche. „Falls wir herausfinden, welcher Zauber eingesetzt wurde, oder auch nur abschätzen können, welche Art von Zauber es ist, sollten wir eine Möglichkeit finden können, ihn aufzuheben.“
„Aber …“, begann Kinndy noch, doch dann biss sie sich auf die Lippe, als Jaina ihr einen scharfen Blick zuwarf.
„Kein Aber. Keine Ausflüchte.“
Niemand wusste, was er darauf erwidern sollte. Kalecgos musterte sie neugierig, während sich seine Lippen zu einem leicht besorgten Ausdruck verzogen hatten. Einmal mehr suchte Jaina in ihrem Inneren nach Ruhe. „Es tut mir leid, dass ich meine Stimme erhoben habe, aber ich bin mir sicher, dass wir einen Weg finden werden, dieses Rätsel zu lösen!“
Kinndy stand auf, um ihnen allen frischen Tee zu bringen, und die anderen blieben in Schweigen gehüllt sitzen, bis schließlich Kalecgos mit stockender, unsicherer Stimme die Stille brach.
„Wir sind uns also darin einig, dass es keinen bekannten Zauber gibt, um einen so mächtigen Gegenstand vor einem so begabten Magier wie mir zu verschleiern. Vor allem, da ich außerdem eine besondere Verbindung mit der Fokussierenden Iris habe“, sagte er. Jaina nahm einen Schluck Tee und ließ sich von dem vertrauten Geruch und Geschmack des Getränks beruhigen. Dann bedeutete sie ihm mit einem Nicken, fortzufahren. „Die logische Schlussfolgerung muss darum diejenige sein, dass es dort draußen entweder einen Magier gibt, der schlau genug ist, einen solchen Zauber zu ersinnen …, oder dass wir es hier mit etwas anderem zu tun haben.“
„Was meint Ihr mit etwas anderem?“, keuchte Kinndy. „Was sollte es denn bitte sonst sein?“
Jaina hob die Hand. Sie zitterte leicht … vor neu erwachter Hoffnung. „Warte einen Augenblick“, sagte sie. „Kalec … ich glaube zu wissen, worauf Ihr hinauswollt.“
Er lächelte, strahlend und fröhlich. „Ich nahm an, dass Ihr es erkennen würdet.“
„Die Iris wird nicht wirklich vor Euch verborgen“, fuhr Jaina fort, ermutigt durch seine Reaktion. Im Kopf ging sie es Schritt für Schritt durch, dann erhob sie sich von ihrem Stuhl und wanderte auf und ab, während sie sprach. „Wir glauben es nur, weil wir sie nicht spüren können.“
„Und wir können sie nicht spüren, weil es nicht sie ist, nach der wir suchen“, beendete Kalec den Gedankengang. „Genau!“
„Könnte sich vielleicht jemand erbarmen, auch uns arme Sterbliche einzuweihen?“, fragte Tervosh trocken. Er hatte sich weit zurückgelehnt, sodass die vorderen beiden Stuhlbeine in der Luft schwebten. „Ich verstehe nämlich gar nichts mehr.“
Jaina drehte sich zu ihm herum. „Was warst du während der letzten Schlotternächte?“, fragte sie, während sie versuchte, die stechende Erinnerung an eine ganz besondere Schlotternacht zu verdrängen. Damals hatte Arthas sie nach Lordaeron eingeladen, um dem traditionellen Entzünden des Weidenmannes beizuwohnen. Zweck dieser Figuren war es, auf metaphorische Weise die Dinge, von denen die Zuschauer gerne befreit wären, hinfortzubrennen. Jaina hatte den Weidenmann mit einem Zauber entzündet, sehr zur Freude der Anwesenden, aber später in dieser Nacht hatten sie und Arthas noch einen anderen, wesentlich mächtigeren Zauber gewirkt. Im Licht der Flammen hatte sie seine Hand genommen und ihn zu ihrem Bett geführt, wo sie zum ersten Mal zu Liebenden geworden waren.
„Ich … ich verstehe nicht.“ Tervosh blickte sie an, als hielte er es durchaus für möglich, dass sie den Verstand verloren hatte. Mit einer bewussten Willensanstrengung lenkte Jaina ihre Gedanken zurück in die Gegenwart – und auf das Problem, dessen Lösung sie nun vielleicht gefunden hatten.
„Zu was wurdest du, um an den Feierlichkeiten teilzunehmen?“, fragte sie den anderen Magier.
Da weiteten sich Tervoshs Augen, und Erkenntnis dämmerte darin auf. Er beugte sich vor, während die Stuhlbeine wieder mit einem Knall auf dem Boden landeten. „Der dumme, kleine Zauber dieses primitiven Stabs hat mich in einen Piraten verwandelt“, sagte er.
„Ich versuche, auf magische Weise einen Gegenstand aufzuspüren, aber man hat ihm eine andere Form gegeben. Dieser ‚dumme, kleine Zauber‘, von dem Ihr sprecht, ist gerade Ablenkung genug, dass ich mich nicht auf die Fokussierende Iris konzentrieren kann“, erklärte Kalecgos. Kurze Zeit schien sein Blick abwesend, aber dann lächelte er wieder. „Zumindest … bis jetzt!“
„Ihr spürt die Iris wieder!“, rief Kinndy aufgeregt.
Er nickte. „Ja – und nein. Das Gefühl kommt und geht.“
„Das kann nur eines bedeuten: Wer auch immer das Artefakt mit diesem dummen, kleinen Zauber belegt hat, weiß, dass er ihn von Zeit zu Zeit verändern muss, damit seine Wirkung nicht nachlässt“, meinte Jaina.
„Exakt!“ Kalec, der während der Unterhaltung ebenfalls aufgestanden war, reichten drei Schritte seiner langen Beine, um die Entfernung bis zu ihr zu überbrücken. Kurze Zeit glaubte Jaina, er werde sie umarmen, aber dann schloss er lediglich seine Hände um ihre und drückte sie fest. Seine Berührung fühlte sich warm und beruhigend an.
„Jaina, Ihr seid ein Genie“, sagte er.
Die Röte stieg ihr ins Gesicht. „Ich habe lediglich Euren Gedanken nachvollzogen“, wiegelte sie ab.
„Ich hatte eine vage Ahnung“, entgegnete er. „Doch Ihr habt herausgefunden, was genau geschehen ist und wie man diese Illusion durchschauen kann. Jetzt, da ich weiß, wo sich die Iris befindet, muss ich sofort aufbrechen.“ Er zögerte. „Ich weiß, dass Ihr Euch wegen der Nordwacht Sorgen macht, aber … bitte bleibt hier! Ich kann der Spur des Artefakts folgen, aber noch habe ich es nicht zurück. Vielleicht brauche ich ein zweites Mal Eure Hilfe.“
Jaina stellte sich dem schmerzhaften Gedanken, was womöglich jetzt gerade an der Feste Nordwacht geschah – oder was bereits geschehen war. Einen Moment lang biss sie sich auf die Lippe, anschließend nickte sie.
„Ich werde hierbleiben“, versprach sie.
Er hob ihre Hände an seine Lippen und küsste sie. „Danke! Ich weiß, wie schwer das für Euch sein muss.“
„Viel Glück, Kalecgos“, sagte Tervosh.
„Ich hoffe, Ihr findet die Iris möglichst schnell wieder“, fügte Kinndy hinzu.
„Ich danke Euch. Jetzt stehen meine Chancen zumindest um ein Vielfaches besser. Ich hoffe, dass ich mich bald wieder mit guten Neuigkeiten an Euch wenden kann.“
Er machte sich auf den Weg zum Ausgang, und Jaina folgte ihm. Keiner von ihnen sagte ein Wort, als sie die gewundene Treppe ins Erdgeschoss hinabstiegen. Aber die Stille fühlte sich nicht unbehaglich an. Schließlich trat Kalecgos ins Sonnenlicht hinaus und drehte sich ein letztes Mal zu ihr herum.