„Ihr werdet sie finden“, erklärte Jaina fest.
Er lächelte sanft. „Wenn Ihr das mit solcher Überzeugung sagt, fange ich sogar selbst an, daran zu glauben“, erwiderte er.
„Gebt auf Euch acht“, sagte sie, auch wenn sie sich sofort wie eine Idiotin vorkam. Schließlich war er ein Drache, und mehr noch, nicht nur irgendein Drache, sondern ein früherer Aspekt. Was auf diesem Kontinent konnte ihm schon gefährlich werden? Doch dann wanderten ihre Gedanken zu den Drachen, die getötet worden waren, als die Diebe die Fokussierende Iris geraubt hatten, und plötzlich fühlte sich ihre Sorge gar nicht mehr so töricht an.
„Das werde ich“, erklärte er ernst, aber dann konnte er sich ein Grinsen nicht länger verkneifen. „Ich werde zurückkommen. Allein schon, um noch ein wenig von Euren köstlichen Plätzchen zu kosten, die Ihr mit dem Tee serviert.“
Jaina lachte. Einen Moment lang blieb er noch stehen – warum, vermochte sie nicht zu sagen –, dann verbeugte er sich und ging davon.
Seine Gestalt veränderte sich dabei so schnell, dass es ihr den Atem verschlug. Wo gerade noch der attraktive Halbelf gestanden hatte, war nun plötzlich ein gewaltiger blauer Drache, auf seine eigene Art nicht weniger attraktiv, aber unglaublich mächtig und auch ein wenig angsteinflößend. Ihn einfach nur blau zu nennen, war eigentlich eine Beleidigung, wenn man all die verschiedenen Schattierungen dieser Farbe betrachtete, die seinen Leib zierten. Azur, Kobalt, Cölinblau, ja sogar der einmalige, helle Farbton von Eis – Kalecgos, der Drache, vereinte sie alle. Er spannte seine mächtigen Flügel, und sie war sich sicher, dass er dieses Gefühl genoss, nachdem er so lange in seiner Halbelfenform verblieben war. Wunderschön, tödlich, gefährlich, prächtig – all das war er, und Jaina wurde plötzlich ganz blass, als sie daran dachte, wie grob sie ein paarmal mit ihm umgesprungen war.
Er konnte ihre Gedanken nicht lesen, aber vielleicht musste er das auch gar nicht. Kalecgos schwenkte seinen Schwanz, der mit Stacheln wie Eiszapfen geschmückt war, dann drehte er den gewaltigen, hörnerbewehrten Schädel auf seinem langen, sehnigen Hals und blickte sie an. Sie konnte die Augen nicht von ihm abwenden.
Schließlich zwinkerte er ihr zu. Ja, er war Kalecgos, der mächtige Drache, der frühere Aspekt, aber er war auch Kalecgos, der fröhliche, verständnisvolle Freund, der ihr die wahre Schönheit und Großartigkeit des Arkanen gezeigt hatte.
Die beinahe schon ängstliche Ehrfurcht, die sie vor einem Augenblick noch vor ihm empfunden hatte, schmolz wie eine Schneeflocke im Sonnenschein dahin, und die Spannung wich von ihrem Körper, beinahe so, als würde sie einen zu schweren Mantel abwerfen. Sie lächelte ihm zu und winkte, und dann neigte er ganz kurz anerkennend den Kopf, bevor er zum Himmel emporblickte. Die riesigen Beine unter seinem Leib angewinkelt, spannte er sich wie eine Katze vor dem Sprung.
Einen Moment später hatte sich Kalecgos bereits in die Lüfte emporgeschwungen, und seine gewaltigen Flügel erzeugten bei jedem Schlag einen angenehmen Windhauch, als er entschlossen in die Höhe schoss. Jaina schirmte die Augen gegen die Sonne ab, während er seinen Steigflug fortsetzte und zu einem winzigen Punkt in der Ferne zusammenschrumpfte, bevor er schließlich ganz verschwand.
Kurz blieb sie noch stehen, und als sie sich umdrehte und in den Turm zurückkehrte, wunderte sie sich, warum sie plötzlich so traurig war.
Schlotternachtkostüme.
Kalecgos schnaubte, während er dahinflog, und obwohl er versuchte, nicht weiter darüber nachzudenken, musste er sich doch selbst tadeln. Wie hatte er etwas so Simples nur übersehen können? Andererseits: Die Analogie, die Jaina auf die Natur des Zaubers aufmerksam gemacht hatte, gründete sich auf einen Feiertag, den es in seiner Kultur nicht gab. Die Schlotternächte waren kein Drachenfest, und auch sonst trugen die riesigen Kreaturen keine Kostüme … es sei denn, natürlich, man bezeichnete ihre Menschengestalt als Kostüm. Doch sie war eigentlich nur eine andere Manifestation ihrer selbst, kein Trick und keine Illusion. Sie diente nicht als Verkleidung.
Oder vielleicht doch? Schließlich benutzten die Drachen ihre Fähigkeit zur Körperwandlung, um sich unbemerkt unter die jüngeren Rassen zu mischen. Kritische Stimmen mochten es also durchaus als Trick bezeichnen, selbst wenn Kalecgos nie das Gefühl gehabt hatte, dass er sich verkleidete, wenn er zu Kalec wurde. Er war noch immer er selbst und sah einfach nur anders aus.
Diese Vorliebe der jüngeren Rassen, Magie auf so leichtfertige Weise einzusetzen, war mehr als verwirrend. Erst durch Jainas Hilfe – die sich mit solchen kleinen, schlichten Zaubern auskannte – war es ihm gelungen, zwei und zwei zusammenzuzählen. Darin sah er ein weiteres Beispiel dafür, dass die Drachen anfangen mussten, Dinge anzuerkennen, die sie einst als frivol abgetan hatten, wenn sie in dieser Welt, die der Stunde des Zwielichts entgangen war, bestehen wollten.
Nun, da er wusste, was für ein Spiel seine Gegner spielten, konnte er die Fokussierende Iris wieder fühlen, genauso wie er es Jaina erzählt hatte. Er musste nur mit seiner Magie nach dem suchen, was sie wirklich war, nicht nach dem, was die Diebe in ihr sahen; er musste sich auf die wahre, arkane Essenz des Artefakts konzentrieren und das Kostüm vergessen, in das sie gehüllt war. Zwar spürte er die Aura der Iris nicht mehr so deutlich wie vor ihrem Verschwinden, aber das Gefühl war noch immer da, wie eine vage Duftfahne in seinem Geist. Immer wieder gab es Momente – lang andauernde Momente –, in denen er das Gefühl hatte, die Verbindung würde wieder abreißen. Doch dann zehrte Kalecgos von der Geduld seiner Rasse und verharrte einfach in der Luft, im Vertrauen auf sein neues Verständnis der Fokussierenden Iris, bis sich ihm das Artefakt wieder zeigte.
Etwas, das ihn zugleich verwirrte und besorgte, war die Geschwindigkeit, mit der das verteufelte Ding dahinraste. Es schien geradezu, als würde es … fliegen. Eigentlich sollte keine der jüngeren Rassen in der Lage sein, sich so schnell zu bewegen. Wie also konnte das sein? Wer war zu einer solchen Geschwindigkeit in der Lage? Falls es ihm gelänge, diesem Rätsel auf den Grund zu gehen, könnte er sicher auch den Rest dieses Mysteriums lösen.
Ein Gedanke, ebenso verlockend wie herzzerreißend, stahl sich in seinen Geist: Würde er die Fokussierende Iris vielleicht schneller finden, wenn er noch die Kräfte eines Aspekts besäße?
Wütend schüttelte er den Kopf. Solche Gedanken führten auf einen gefährlichen Pfad, der in Verzweiflung enden mochte. Er hatte jetzt keine Zeit für diese so kleinen und doch so gewaltigen Worte wie hätte, wäre und wenn. Das war der Sirenengesang des Verderbens, gekleidet in das Kostüm des Wunschdenkens. Er musste der Realität ins Gesicht sehen, und er brauchte all die Weisheit, Klarheit und Zuversicht, die er nur mobilisieren konnte, um das Schlimmste noch zu verhindern.
Jaina überraschte es selbst ein wenig, aber sie erkannte, dass sie Kalecs Gegenwart vermisste. Er hatte den Ernst ihrer Lage niemals auf die leichte Schulter genommen – die Aufgabe, die Iris zu finden, lastete schwerer auf ihm als auf sonst jemandem, schließlich gehörte das Artefakt seinem Schwarm –, aber er hatte dieser sonst so düsteren und beängstigenden Aufgabe eine gewisse Leichtigkeit verliehen. Sein Humor war ebenso angenehm wie sein Geist scharf und sein Verhalten zuvorkommend und gütig. Außerdem war er äußerst verständnisvoll gewesen. Er schien genau zu wissen, wann er eine Pause in ihrer Arbeit vorschlagen sollte und wann er weiter auf der Suche nach einem Durchbruch beharren musste, ebenso wie er stets wusste, wo sie zu suchen hatten und welche frischen Ansätze er einbringen konnte, um den anderen einen neuen Blickwinkel zu zeigen. Er hatte es geschafft, sie alle vier zu motivieren, obwohl die Chancen auf den Erfolg so verschwindend gering gewesen waren.