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Davon abgesehen musste sie zugeben, dass er in seiner Halbelfengestalt gar nicht mal so schlecht ausgesehen hatte. Mit leiser Überraschung erkannte sie, wie lange es schon her war, dass sie sich solche einfachen Freuden wie männliche Gesellschaft und entspannte Unterhaltungen gegönnt hatte. Noch länger war es aber her, seit sie sich zum letzten Mal wirklich … nun … sicher genug gefühlt hatte, um sich jemandem zu öffnen und so uneingeschränkt mit ihm zusammenzuarbeiten. Bittere Erfahrungen hatten Jaina gelehrt, dass man nur dann ein guter Diplomat sein konnte, wenn man stets wachsam blieb und sich nicht in die Karten schauen ließ. Wer sich nicht daran hielt, der gab sich eine Blöße und machte sich verwundbar. Und auch wenn die Gesten des Vertrauens selbstverständlich zur Arbeit eines Diplomaten gehörten und er aufrichtig und ehrlich auf das hinarbeiten musste, was das Beste für die Allgemeinheit war – er durfte doch niemals verwundbar werden, denn das hieß dann, alles zu verlieren. Jaina hatte auch einmal geglaubt, alles verloren zu haben, damals, als Arthas der Dunkelheit anheimgefallen war. Und selbst wenn es ein Irrtum gewesen war, wie sie später erkannt hatte, so hatte sie doch nie wieder jemanden so nahe an sich herangelassen – nicht als Diplomatin und auch nicht als Frau.

Nun wurde ihr klar, dass sie sich bei Kalecgos verwundbar gemacht hatte. Ohne es überhaupt zu merken, kitzelte er dieses Gefühl der Vertrautheit aus ihr heraus. Wie bizarr, dachte sie, und die Komik der Situation verzog ihre Lippen zu einem Schmunzeln. Ich fühle mich ausgerechnet bei einem Drachen sicher. Andererseits hatte sie sich doch auch bei Go’el sicher gefühlt, und der war ein Orc, beim Licht! Mehr noch, er war der Kriegshäuptling der Horde gewesen. Doch bei ihm hatte sie es nie gewagt, ihre Deckung ganz sinken zu lassen.

Auch wenn sie alle hofften, dass Kalec die Fokussierende Iris finden würde, nun, da er sie wieder richtig erkennen konnte, es gab doch noch immer mehr als genug für sie zu tun; schließlich konnten sie nicht ausschließen, dass die Fährte wieder kalt wurde. Tervosh widmete sich gerade dem Studium von Zaubersprüchen, mit denen man jemanden über große Distanzen hinweg bewegungsunfähig machen konnte, und Kinndy war wieder nach Dalaran zurückgekehrt, um eine Truhe mit Schriftrollen zu durchforsten, die sie in der hintersten Ecke der Bibliothek entdeckt hatte. „Ihr würdet mich beneiden“, hatte das Gnomenmädchen gesagt, als Jaina sich das letzte Mal durch den Spiegel mit ihr unterhalten hatte. „Da ist überall Staub.“

Doch sie konnten sich nicht allein auf ihre Hoffnungen verlassen, und auch wenn es brutal war, sie mussten praktisch denken. Darum hatten Jaina, Tervosh und die Leidende begonnen, sich Mittel und Wege zu überlegen, sowohl magische als auch weltliche, um die großen Allianzstädte schnellstmöglich zu evakuieren, sollten die Diebe beschließen, die Fokussierende Iris für einen Angriff zu benutzen. Jaina hatte sich gerade laut gefragt, ob sie vielleicht auch der Horde über die Gefahr berichten sollten, aber die Leidende warf ihr daraufhin einen schneidenden Blick zu. „Mylady“, erklärte sie, „wir können nicht ausschließen, dass Mitglieder der Horde für diesen Diebstahl verantwortlich sind.“

„Ebenso wenig können wir aber ausschließen, dass Mitglieder der Allianz hinter der Sache stecken“, entgegnete Jaina. „Beide Seiten können mit Magie umgehen, Leidende. Kel’Thuzad zum Beispiel war früher ein Mitglied der Kirin Tor. Vielleicht gehören die Täter aber auch zu einer völlig anderen Spezies. Kalimdor ist schließlich ein großer Kontinent.“

„Dann sollten wir uns auch ein paar Szenarien überlegen, um die Horde zu schützen“, schlug Tervosh vor, der sich schon vor langer Zeit daran gewöhnt hatte, einen Kompromiss zwischen den Ansichten dieser beiden Frauen zu finden. „Es kann ja nicht schaden.“

„Und sollte die Horde tatsächlich angegriffen werden, dann können wir ihr Vertrauen gewinnen, wenn wir ihnen rasch zu Hilfe eilen“, meinte Jaina, die Diplomatin. Die Leidende schnitt eine Grimasse, sagte aber nichts weiter dazu.

Nachdem sie so lange das Gefühl gehabt hatte, mit leerer Luft zu ringen, ohne einen Plan oder auch nur eine klare Vorstellung von dem, wonach sie suchten, war es eine gewaltige Erleichterung, sich nun etwas so Konkretem wie einer Evakuierungsstrategie für die großen Städte von Kalimdor zu widmen. Jainas Geist schaltete mühelos, beinahe wie von selbst, auf logisch-rationales Denken um. Kalec hatte ihr gezeigt, was sie bereits gewusst, aber nie bewusst zur Kenntnis genommen hatte: dass Magie Mathematik war. Es gab immer eine Möglichkeit, die Dinge in einer passenden Gleichung zu vereinen. Und falls man diese Möglichkeit nicht erkannte, nun gut, dann hatte man einfach noch nicht gründlich genug gesucht.

Der Nachmittag ging in den Abend über, und nachdem sie die letzten Tage bis weit in die Nacht wach geblieben und schon früh am Morgen wieder aufgestanden war, genoss sie es nun, sich einfach ausruhen zu können. Sie kroch in ihr Bett, kaum dass die Sonne untergegangen war. Die Zuversicht, dass Kalec die Iris bald schon finden würde und sie dann zumindest von diesem Problem befreit wären, wiegte sie schnell in den Schlaf.

„Mylady.“

Jaina war so benommen, dass sie zunächst glaubte, die drängende Stimme nur in einem Traum zu hören. Aber als sie blinzelnd erwachte, sah sie eine hochgewachsene Gestalt mit langen Ohren, die sich als Silhouette vor dem Fenster abzeichnete. „Leidende?“, murmelte sie.

„Ein Bote ist hier. Wir haben ein Mitglied der Horde gestellt. Der Gefangene“ – die Stimme der Leidenden gab deutlich ihre Zweifel wieder – „sagt, er müsse unbedingt mit Euch sprechen.“

Jetzt war Jaina wach. Sie rutschte aus dem Bett und griff nach einem Überwurf, während sie mit einer schnellen Handbewegung die Lampen entzündete. Wie üblich trug die Leidende ihre Rüstung. „Er behauptet, man hätte ihn von der Feste Nordwacht losgeschickt, wo die Allianz von der Horde überrannt wurde.“

Jainas Atem stockte. Vielleicht hätte sie doch zur Nordwacht gehen sollen, nachdem Kalecgos aufgebrochen war. Sie seufzte bitterlich. „Ich sollte wahrscheinlich schon froh sein, dass ihm die Männer, die ihn gefasst haben, nicht sofort an die Kehle gegangen sind.“

„Er ist ihnen offen entgegengetreten“, teilte ihre Leibwächterin mit. „Und er hatte dies hier dabei, als Zeichen seiner Ernsthaftigkeit. Er hat den Wachen versichert, Ihr würdet es erkennen und mit ihm sprechen wollen. Die Männer waren zumindest bereit, so lange zu warten, bis Ihr seine Geschichte bestätigt hättet.“

Die Leidende hielt ihr ein großes, in weißes Tuch gehülltes Bündel hin, und als Jaina es entgegennahm, fiel ihr auf, wie schwer es war. Behutsam faltete sie den Stoff auseinander. Ihre Augen weiteten sich.

Es war ein Streitkolben, eine Waffe von gewaltiger Schönheit und beeindruckender Handwerkskunst, deren Spitze silberglänzend und mit ineinander verwobenen goldenen Bändern verziert war. Hie und da schimmerten kleine Edelsteine, und auch Runen waren in den Kolben geritzt.

Jaina starrte die Waffe einen Augenblick lang fasziniert an, dann blickte sie zur Leidenden hoch. „Lass ihn herbringen“ war alles, was sie sagte.

Ein paar Augenblicke später führten die Wachen den Boten der Horde – Jaina hielt ihn nicht länger für einen Spion – herein.

Er war von hünenhafter Gestalt, sein Körper unter einem weiten Umhang verborgen. Und so, wie er die Wachen überragte, bekam Jaina das Gefühl, dass er die beiden Männer in Sekundenschnelle hätte überwältigen können, ohne auch nur ins Schwitzen zu geraten. Doch stattdessen ließ er sich grob vor ihnen herschubsen.

„Lasst uns allein!“, befahl Jaina.

„Mylady?“, fragte einer der Soldaten. „Wir sollen Euch mit dieser … dieser Kreatur … … allein lassen?“

Sie maß die Wache mit einem scharfen Blick. „Er ist in gutem Glauben zu mir gekommen, und ich werde nicht dulden, dass man so über ihn spricht.“