Der Mann errötete sichtlich, während er und sein Kamerad sich vor ihrer Herrin verbeugten. Dann zogen sie sich zurück und schlossen hinter sich die Türen des Salons.
Die massige Gestalt richtete sich auf, und eine Hand tauchte zwischen den Falten des Umhangs auf, um die Kapuze zurückzuschieben. Nun blickte Jaina in das beherrschte, stolze Gesicht eines Tauren hinauf.
„Lady Jaina Prachtmeer“, sagte er und neigte den Kopf. „Mein Name ist Perith Sturmhuf. Ich komme auf Befehl meines Oberhäuptlings zu Euch. Er hat mir aufgetragen, Euch den Streitkolben zu geben. Er meinte … Ihr würdet meinen Worten eher glauben, wenn ihr ihn gesehen habt.“
Jaina schloss ihre Finger fester um die Waffe. „Ich würde den Furchtbrecher an jedem Ort erkennen“, erklärte sie und erinnerte sich noch an jenen Tag, als Baine Bluthuf und Anduin Wrynn in diesem Raum hier zusammengesessen hatten. Gerührt von Baines Verlust und seiner Verunsicherung, da er den Titel seines ermordeten Vaters übernehmen sollte, war der Menschenprinz in sein Gemach geeilt. Und als er zurückgekehrt war, hatte er diesen Streitkolben in Händen gehalten. Er war ein Geschenk von König Magni Bronzebart gewesen, und es hatte Jaina tief bewegt, als Anduin die Waffe an Baine weitergereicht hatte: Der Sohn eines Königs der Allianz schenkte dem Sohn eines Häuptlings der Horde etwas so Schönes und Wertvolles. Als Baine den Streitkolben angenommen hatte, hatte auch der Furchtbrecher sein Einverständnis gezeigt, indem er in der riesigen Hand des Orcs leicht aufgeglüht war.
„Darauf hat er gezählt. Lady Jaina – mein Oberhäuptling denkt voller Wertschätzung und Respekt von Euch, und wegen des Gedenkens an jene Nacht, als er den Furchtbrecher erhalten hat, lässt er Euch diese Warnung überbringen. Die Feste Nordwacht ist an die Horde gefallen.“ Er sprach diese Worte ohne jede Freude aus; tatsächlich wirkte Perith grimmig und betrübt. „Was meinen Oberhäuptling noch weiter besorgt, ist, dass dieser Sieg durch den Einsatz dunkler Schamanenmagie errungen wurde. Er verachtet dieses Vorgehen, aber um sein Volk zu beschützen, hat sich Baine einverstanden erklärt, der Horde weiter zu dienen, sollten seine Dienste wieder erbeten werden. Er möchte jedoch betonen, dass ihm diese Pflichten keinerlei Freude bereiten.“
Jaina nickte. „Das glaube ich ihm nur zu gern. Dennoch hat er sich an einem Akt der Aggression gegen die Allianz beteiligt. Die Feste Nordwacht …“
„Ist nur der Anfang“, unterbrach Perith sie. „Höllschrei will viel mehr einnehmen als nur einen simplen Außenposten.“
„Was?“
„Sein Ziel ist nichts anderes als die Eroberung des gesamten Kontinents“, fuhr Perith fort, und nicht einmal die ruhige Stimme dieses Tauren konnte den Worten etwas von ihrem gnadenlosen Schrecken nehmen. „Schon bald wird er der Horde den Befehl geben, gegen Theramore zu marschieren. Und hört auf meine Worte, wenn ich sage, dass seine Armee gewaltig ist. So, wie es im Moment steht, werdet Ihr unterliegen.“
Diese Aussage machte er nicht, um sie einzuschüchtern. Er konfrontierte sie einfach nur ehrlich und direkt mit der Wahrheit. Jaina schluckte.
„Mein Oberhäuptling hat nicht vergessen, wie Ihr ihm einst geholfen habt, darum hat er mich gebeten, Euch zu warnen. Er möchte nicht, dass Euch der Angriff unvorbereitet trifft.“
Diese Geste überwältigte Jaina. „Euer Oberhäuptling“, sagte sie mit überquellendem Herzen, „ist wahrlich ein ehrenwerter Taure. Es erfüllt mich mit Stolz, dass er eine so hohe Meinung von mir hat, und ich danke ihm für diese frühzeitige Warnung. Bitte sagt ihm, dass er auf diese Weise geholfen hat, unschuldige Leben zu retten!“
„Er bedauert, nicht mehr für Euch tun zu können, als Euch zu warnen, Mylady. Und … er bittet Euch, den Furchtbrecher entgegenzunehmen und ihn demjenigen zurückzugeben, der ihn ihm einst so großzügig zum Geschenk machte. Mein Oberhäuptling glaubt, dass er diese Waffe nicht länger tragen sollte.“
Jaina nickte, obwohl rasch emporsteigende Tränen in ihren Augen brannten. Sie hatte gehofft, jene Nacht möge der Beginn eines Heilungsprozesses gewesen sein, der Beginn eines gegenseitigen Verständnisses. Doch dies hatte nicht sein sollen. Was ihr Baine auf die für ihn so typische, sanfte Weise mitteilte, war, dass ihre Freundschaft nur bis zu einem gewissen Grad reichte – er war kein Mitglied der Allianz und würde auch niemals eines sein. Nein, er würde bei der Horde bleiben und mit ihr kämpfen. Sie verstand das, da sie wusste, wie verwundbar das Volk der Tauren wäre, falls es sich jetzt gegen Garrosh stellte. Und auch sie wollte nicht, dass ihnen Leid widerfuhr.
„Ich werde dafür sorgen, dass der Furchtbrecher seinem vorherigen Besitzer zurückgegeben wird“, versprach sie, und in diesen wenigen Worten klangen all die Schattierungen und die Widersprüche in ihrem Herzen wider.
Perith war ein ausgezeichneter Kurier. Er begriff, was sie meinte, und verbeugte sich tief, während Jaina zu dem kleinen Schreibtisch auf der anderen Seite des Raumes hinüberging. Nachdem sie Pergament, Tinte, Federkiel und Wachs hervorgeholt hatte, schrieb sie mit flinker Hand einen kurzen Brief, anschließend stäubte sie Puder auf die Tinte, damit sie schneller trocknete. Dann faltete sie das Pergamentpapier zusammen. Zu guter Letzt versiegelte sie den Brief noch mit rotem Wachs und ihrem eigenen, persönlichen Stempel, dann stand sie auf und hielt ihn dem wartenden Tauren hin.
„Das garantiert Euch sicheres Geleit durch das Gebiet der Allianz, solltet Ihr gefangen genommen werden.“
Er lachte. „Niemand wird mich gefangen nehmen, aber ich weiß Eure Sorge zu schätzen.“
„Und sagt Eurem noblen Oberhäuptling, dass es keine Gerüchte über einen Taurenspäher geben wird, der mich besucht hat! Allen, die mich fragen, werde ich sagen, dass wir die Nachricht von einem Kundschafter der Allianz erhalten haben, der vom Schlachtfeld entkommen konnte. Nehmt Euch Proviant und kehrt sicher zu Eurem Volk zurück!“
„Möge die Erdenmutter auf Euch herablächeln, Lady“, sagte Perith. „Jetzt, da ich Euch begegnet bin, kann ich die Entscheidung meines Oberhäuptlings noch besser verstehen.“
Sie lächelte ihn traurig an. „Das Licht sei mit Euch, Perith Sturmhuf.“
„Das Licht? Vielleicht eines Tages. Aber heute ist dieser Tag noch nicht gekommen.“
Sie blickte ihm nach und musste den unsinnigen Drang unterdrücken, ihm nachzurufen und allen Tauren Asyl anzubieten. Sie wollte Baine nicht in der Schlacht gegenüberstehen, wollte nicht Zauber wirken müssen, die diese sanften, weisen Kreaturen töten würden. Doch die Tauren waren Jäger, Krieger, und als solche würden sie sich nie vor ihrer Pflicht drücken. Baine hatte bereits alles getan, was er tun konnte – und um ehrlich zu sein, war es sogar viel mehr, als Jaina erwartet hatte. Nicht wenige würden eine solche Warnung als Hochverrat bezeichnen.
Sie konnte nur hoffen, dass diese Geste für den Oberhäuptling der Tauren nicht zu einem Stolperstein wurde.
Jaina begrub das Gesicht in den Händen und sammelte Stärke. Als sie sich wieder gefasst hatte, rief sie nach der Leidenden.
„Weck Tervosh und ruf Kinndy zurück! Sie sollen sich in der Bibliothek mit mir treffen.“
„Darf ich fragen, worum es geht?“
Jaina blickte ihre Leibwächterin und Freundin mit müdem Gesicht an. „Krieg“ war alles, was sie sagte.
10
Es schien, als wären der Fokussierenden Iris Flügel gewachsen, so schnell bewegte sie sich, und Kalecgos hatte den Großteil des Tages damit verbracht, ihrer Spur pflichtbewusst zu folgen, wie eine Dogge, die einer Fährte nachging. Als er von Theramore aufgebrochen war, hatte ihn das Artefakt von der Insel aus nach Nordosten geführt, und Kalecgos hatte vermutet, dass sie sich nun in Mulgore befand, vielleicht in der Nähe von Donnerfels. Als der Drache dann das Große Tor erreichte, verharrte die Iris einen Moment lang und begann anschließend nach Nordwesten zu wandern, in Richtung Orgrimmar. Kalec folgte ihrer Aura, so schnell ihn seine Flügel durch die Luft tragen konnten, um den Abstand zu verringern. Aber kaum dass er das Wegekreuz passiert hatte, schlug die Iris einen weiteren Haken, und nun bewegte sie sich beinahe direkt nach Süden.