Also blickte er aus betrübten blauen Augen zu Nobundo auf und erklärte: „Ich bin voller Trauer. Und voller Zorn. Aber es ist mir bestimmt, hier zu sein. Im Augenblick ist nichts wichtiger als diese Pflicht.“
Nach diesen Worten schwiegen sie alle, selbst Aggra. Sie wussten, welch gewaltigen Preis er bereits gezahlt hatte. Schließlich streckte Rehgar den Arm aus und klopfte Thrall auf die Schulter.
„Wir werden nicht zulassen, dass auch nur ein einziges Opfer dieser Katastrophe umsonst gestorben ist, ob es nun Mitglied der Horde oder der Allianz war. Lasst sie uns durch unser Tun hier ehren. Also los, gehen wir wieder an die Arbeit!“
Jaina trat durch das Portal in Sturmwinds Tal der Helden, direkt unter der Statue von General Turalyon. Einst hatte General Jonathan hier patrouilliert, aber jetzt konnte sie keinen berittenen Soldaten sehen, der darauf wartete, Besucher zu begrüßen oder Botschaften in Sekundenschnelle an den König weiterzugeben. Ihr Blick fiel auf die Gerüste, die um mehrere der Türme herumstanden; die Zerstörung, die Todesschwinge angerichtet hatte, war noch immer nicht gänzlich behoben.
Sie hatte die Fokussierende Iris an einem sicheren Ort versteckt, nahe genug, dass ihre Aura und die des Artefakts für Kalecgos’ suchende Sinne zu einem verschwammen. Davon abgesehen aber hatte sie keine Vorbereitungen für ihr Treffen mit Varian getroffen. Ihr Gesicht und die Roben waren noch immer schmutzig, ihr Körper von kleinen Schnitten übersät und von Blutergüssen verfärbt. Doch es kümmerte sie nicht. Dies war kein formelles Abendessen, keine festliche Soiree. Was sie hierherführte, war ein viel düsterer und ernsterer Anlass, und sie sah keinen Grund, sich dafür zu baden und zu schminken oder auch nur saubere Kleider anzulegen. Das einzige Zugeständnis an ihr Erscheinungsbild war der dunkle Umhang, dessen Kapuze sie tief in ihr Gesicht gezogen hatte, um ihr nunmehr weißes Haar mit der einzelnen blonden Strähne zu verbergen.
Die Nachricht vom grausigen Schicksal Theramores schien bereits bis nach Sturmwind vorgedrungen zu sein. Die Stadt war für gewöhnlich rund um die Uhr ein Ort reger Betriebsamkeit, aber nun war jegliche Unbekümmertheit aus diesem Treiben gewichen, stattdessen wohnte ihm eine düstere Verbissenheit inne. Die Soldaten, die auf den Straßen patrouillierten, grüßten die Bürger nicht mehr zwanglos, sondern marschierten zielstrebig dahin, während ihre Augen wachsam über die Menge schweiften. Die leuchtenden blauen und goldenen Banner waren eingeholt und durch schlichte schwarze Trauerfahnen ersetzt worden.
Jaina zog den Umhang enger um ihre Schultern und machte sich auf den Weg zur Burg. „Halt!“, rief da eine Stimme so schneidend und herrisch, dass Jaina instinktiv die Hände zu einem Zauber hob, als sie sich eilig umdrehte. Doch dann hielt sie inne. Es war kein Mitglied der Horde, das sie angreifen wollte, sondern eine der Wachen von Sturmwind. Der Mann hatte sein Schwert gezogen, als sie sich so abrupt umgewandt hatte, und nun betrachtete er sie mit zusammengezogenen Augenbrauen. Einen Moment später, als seine Augen den ihren begegneten, verwandelte sich der grimmige Ausdruck auf seinem Gesicht in Überraschung.
Jaina zwang ein Lächeln auf ihre Lippen. „Euer Pflichtbewusstsein ist lobenswert, Sir“, sagte sie. „Ich bin Lady Jaina Prachtmeer – und bin hier, um eine Audienz bei Eurem König wahrzunehmen.“ Mit diesen Worten schob sie die Kapuze ein wenig zurück, um der Wache ihr Gesicht zu zeigen. Sie konnte sich nicht erinnern, diesem Mann schon einmal persönlich begegnet zu sein, aber es war davon auszugehen, dass er sie bei einem ihrer zahlreichen offiziellen Besuche bereits gesehen hatte. Doch selbst wenn nicht: Sie war eine berühmte Persönlichkeit, und viele Leute erkannten sie.
Es dauerte eine Sekunde, dann schob er sein Schwert in die Scheide zurück und verbeugte sich. „Verzeiht, Lady Jaina! Wir hörten, es hätte keine Überlebenden gegeben, außer in den Außenbezirken der Stadt. Dem Licht sei Dank, dass Ihr verschont bliebt!“
Mit dem Licht hat das nichts zu tun, dachte sie. Der ganze Dank gilt Rhonin und seinem Opfer. Sie wusste noch immer nicht, warum sich der Erzmagier entschieden hatte, zurückzubleiben und zu sterben, während sie in Sicherheit gebracht wurde. Er war ein Ehemann und Vater von Zwillingen, außerdem der Anführer der Kirin Tor. Er besaß mehr, wofür es sich zu leben lohnte als Jaina Prachtmeer. Sie hätte mit ihrer Stadt untergehen sollen, jener Stadt, die sie nicht hatte retten können, weil sie zu vertrauensselig gewesen war.
Nichtsdestotrotz waren die Worte der Wache freundlich gemeint. „Danke“, erwiderte sie darum.
Der Soldat fuhr fort. „Wie Ihr sehen könnt, bereiten wir uns auf den Krieg vor. Jeder – wir waren alle entsetzt, als uns die Nachricht erreichte, dass …“
Jaina ertrug es nicht, noch mehr darüber zu hören und hob die Hand. „Ich bin dankbar für Eure Sorge“, erklärte sie. „Varian erwartet mich.“ Das traf natürlich nicht zu. Er glaubte, dass sie gestorben sei, so wie Kinndy und die Leidende und Tervosh und – „Ich kenne den Weg.“
„Daran zweifle ich nicht, Lady. Falls Ihr irgendetwas braucht, ganz gleich was, wäre es eine Ehre für jede Wache von Sturmwind, Euch zu helfen.“
Er salutierte noch einmal und setzte anschließend seinen Patrouillengang fort, während Jaina in Richtung der Burg Sturmwind weiterging. Die Banner der Allianz, die hier für gewöhnlich hinter der Statue von König Varian Wrynn hingen, waren ebenfalls durch schwarze Fahnen ersetzt worden. Jaina, die die Statue schon zuvor gesehen hatte, schenkte ihr kaum Beachtung, ebenso wenig dem Brunnen, auf dem sie stand. Schnellen Schrittes stieg sie die Stufen zum Haupteingang der Burg hinauf, und nachdem sie ihren Namen und ihr Begehr genannt hatte, sagte man ihr, dass Varian sie selbstverständlich so bald wie möglich empfangen werde.
Die Wartezeit wollte Jaina nutzen, um jemand anders einen Besuch abzustatten. Also schlüpfte sie durch eine Seitentür in die Königliche Galerie.
Der Saal hatte den Angriff des großen schwarzen Drachen nicht unbeschädigt überstanden, ebenso wenig wie die darin ausgestellten Kunstwerke. Einige der Statuen waren zerschmettert, Bilder von den Wänden geschleudert worden. Die Werke, die nicht mehr zu retten waren, hatte man bereits entfernt, und die Gemälde, Schnitzereien und Statuen, die noch hier standen, warteten auf die Zuwendung des Restaurateurs.
Hier blieb Jaina stehen, so reglos, als wäre sie selbst aus Stein gehauen, und als die Gefühle, die sich durch ihr Inneres wühlten, sie erneut zu quälen begannen, wünschte sie, sie wäre es wirklich. Einen Moment später gaben ihre Knie nach, und sie fand sich auf dem Boden vor einer großen Statue wieder. Dieses Kunstwerk stellte einen stolzen Mann dar, mit langem Haar, das unter einem breiten Hut hervorwallte. Sein Schnurrbart war ordentlich gestutzt, sein gemeißelter Blick in die Ferne gerichtet. Eine Hand, an der nun zwei Finger fehlten, ruhte auf dem Griff seines Schwertes, die andere umschloss seinen Gürtel. Ein Riss zog sich im Zickzack vom rechten Stiefel aus über die Statue und bis hinauf zur Mitte seiner Brust. Jaina streckte die zitternde Hand aus und schloss sie um den steinernen Stiefel.
„Ist es wirklich erst fünf Jahre her, seit ich meinen Pfad gewählt habe?“, flüsterte sie. „Ich zog es vor, mich auf die Seite von Fremden zu schlagen, von Feinden, von Orcs, und nicht bei dir zu bleiben, Papa. Bei meinem eigenen Blut. Ich habe dich intolerant geschimpft, habe gesagt, dass Friede der richtige Weg sei. Und als du sagtest, du würdest sie immer hassen, du würdest niemals aufhören, gegen sie zu kämpfen, erwiderte ich, sie wären auch nur … Leute. Dass sie eine Chance verdient hätten. Jetzt bist du tot. Und meine Stadt ist auch tot.“
Tränen rannen an ihrem Gesicht hinab. In einem Teil ihres Gehirns, der von ihren Gedanken losgelöst war, nahm sie zur Kenntnis, dass diese Tränen violett waren und glühten – flüssige arkane Energie. Sie tropften auf den steinernen Sockel, auf dem die Statue ruhte, und verdampften zu lila Dunst.