„Papa … vergib mir! Vergib mir, dass ich die Horde so stark werden ließ! Vergib mir, dass ich ihnen die Gelegenheit gab, so viele unserer Leute abzuschlachten!“ Sie hob den Kopf und blickte durch einen violett-weißen Schleier zu der unerbittlichen Statue hinauf. „Du hattest recht, Papa. Du hattest recht! Ich hätte auf dich hören sollen! Jetzt, jetzt, da es zu spät ist, habe ich es verstanden. Leider musste erst diese … Katastrophe geschehen, bevor ich begreifen konnte.“
Sie wischte sich mit dem Ärmel über die tränennassen Augen. „Aber noch ist es nicht zu spät, um dich zu rächen. Um K-kinndy zu rächen, und die Leidende und Tervosh und Rhonin und Aubrey und all die Generäle – und auch die anderen, die letzte Nacht in Theramore gefallen sind. Sie werden dafür bezahlen. Die Horde wird bezahlen. Ich werde Garrosh vernichten, du wirst sehen. Wenn möglich mit meinen eigenen Händen. Ich werde ihn zerstören und jeden seiner verfluchten grünhäutigen Schlächter auch. Ich verspreche es dir, Papa, ich werde dich nicht noch einmal enttäuschen. Ich werde nicht zulassen, dass sie noch mehr von unseren Leuten töten. Nie wieder. Das schwöre ich. Ich schwöre es …“
Jaina brauchte ein paar Sekunden, um sich zu sammeln, bevor sie nach draußen zurückkehrte, um auf ihre Audienz bei Varian zu warten. Doch diese neu gewonnene Beherrschung wurde schon bald wieder zerschmettert, nachdem man sie angekündigt und in die Privatgemächer des Königs geführt hatte, denn dort begrüßte sie nicht der hochgewachsene dunkelhaarige Mann, der einst ein Gladiator gewesen war, sondern ein schlanker flachsblonder Junge.
„Tante Jaina!“, rief Anduin und eilte zu ihr hinüber, sein Gesicht voller Erleichterung. „Du lebst!“
Jaina wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie dachte an die Scherbe des Spiegels, und …
Er schlang die Arme fest um sie, aber Jaina stand wie erstarrt in dieser Umarmung. Der Junge merkte es sofort und trat einen Schritt nach hinten. Erst jetzt bemerkte er, wie sehr das Arkane sie verändert hatte. Seine Augen weiteten sich.
„Was tust du hier?“, fragte sie, strenger, als sie eigentlich gewollt hatte.
„Ich habe mir Sorgen um dich gemacht“, sagte er. „Als wir erfuhren, was mit Theramore geschehen ist … Ich wollte hier sein. Ich wusste, falls du überlebst, würdest du nach Sturmwind kommen.“
Sprachlos starrte sie ihn an. Was konnte sie auch schon sagen? Wie sollte sie diesem naiven Kind das Grauen begreiflich machen, das sie miterlebt hatte? Er war so unschuldig, wusste so wenig von der wahren Natur ihres Feindes. Ich war ganz früher auch einmal so naiv und unwissend wie er …
„Jaina! Dem Licht sei gedankt!“ Sie atmete auf und drehte sich herum, als der Kriegerkönig in den Raum trat. Varian hegte schon lange einen persönlichen Groll gegen die Orcs. Anduin war noch zu jung, um Jaina zu verstehen, aber eines Tages würde er ihre Beweggründe begreifen; Varian hingegen verstand sie jetzt schon – jetzt, als es am meisten zählte.
Er war leger gekleidet und machte einen erschöpften, gehetzten Eindruck. Aber da war auch Erleichterung und Freude auf seinem Gesicht, und als er sah, wie sie sich verändert hatte, gesellte sich ein verwirrter Ausdruck hinzu.
Irritiert ob dieses Blickes schnappte Jaina: „Ich habe nur überlebt, weil mich Erzmagier Rhonin durch ein Portal gestoßen und so in Sicherheit gebracht hat. Dennoch ging die Explosion auch an mir nicht spurlos vorüber.“
Varian zog infolge der Direktheit ihrer Aussage eine Braue in die Höhe. Aber dann nickte er und akzeptierte ihre Erklärung, ohne weiter nachzufragen. „Es wird Euch sicher freuen zu erfahren, dass Ihr nicht die einzige Überlebende seid“, sagte er. „Vereesa Windläufer, Shandris Mondfeder und ihre Spähmannschaften sind ebenfalls heil davongekommen. Die beiden sind in ihre jeweiligen Heimatstädte zurückgekehrt und beraten sich mit ihrem Volk über den Krieg.“
Jaina wollte nicht an die verwitwete Vereesa oder ihre beiden vaterlosen Kinder denken. „Es freut mich, dies alles zu hören“, meinte sie. „Oh, Varian, ich muss Euch um Vergebung bitten. Ihr hattet recht. Schon die ganze Zeit über. Wieder und wieder habe ich Euch gesagt, wir könnten irgendwie zur Horde durchdringen, einen Weg für den Frieden finden. Aber das war eine Illusion. Was mit Theramore geschehen ist, beweist, was Ihr schon wusstet, als ich noch von der Hoffnung geblendet war und es nicht sehen wollte: Es kann keinen Frieden geben. Wir müssen Vergeltung an der Horde üben. Jetzt. Sie werden alle nach Orgrimmar zurückkehren. Die Versuchung, seinen triumphalen Sieg über die Allianz zu feiern, ist zu groß – Garrosh wird ihr nicht widerstehen können.“
Unmerklich zuckte Anduin zusammen, als er die Verbitterung in ihrer Stimme vernahm. „Es wird ein gewaltiges Gelage geben, seine ganze Armee wird sich dort versammeln. Einen besseren Zeitpunkt für den Gegenschlag gibt es nicht.“
Varian wollte etwas sagen. „Jaina …“
Doch sie fuhr unbeirrt fort und ging gestikulierend auf und ab. „Die Kaldorei werden sich sicher überreden lassen, unsere Flotte mit ihren Schiffen zu verstärken. Wir werden sie völlig überraschen, alle Orcs töten und die gesamte Stadt dem Erdboden gleichmachen. Wir werden ihnen einen Schlag versetzen, von dem sie sich nie wieder erholen. Wir werden …“
„Jaina.“ Varians tiefe Stimme klang ruhig, als er nach ihren Handgelenken griff und sie mit sanfter Gewalt zwang, in ihrem hektischen Auf und Ab innezuhalten. „Beruhigt Euch bitte!“
Fragend blickte sie zu ihm auf. Wie konnte er jetzt von Ruhe sprechen?
„Ich bin sicher, Ihr wisst noch nicht davon, aber die Horde hat eine höchst wirkungsvolle Blockade um den gesamten Kontinent errichtet. Die Kaldorei könnten uns nicht einmal helfen, falls sie es wollten. Das soll natürlich nicht heißen, dass wir nicht zurückschlagen werden. Aber wir müssen dabei wohlüberlegt vorgehen. Wir brauchen eine Strategie, einen Plan, wie wir die Blockade durchbrechen und die Nordwacht zurückerobern können.“
„Wisst Ihr denn nicht, was sie mit der Feste getan haben?“, schnappte Jaina.
„Doch“, nickte Varian, „aber sie ist und bleibt ein strategisch wichtiger Außenposten, den wir unter unsere Kontrolle bringen müssen, bevor wir gegen die Horde losschlagen können. Und wir müssen die Flotte wieder aufbauen. Viele gute Männer sind bei Theramore gestorben; es wird eine Weile dauern, geeignete Leute von ihren Posten abzuziehen und diese Lücken zu schließen. Jaina, wir müssen das richtig in Angriff nehmen, sonst werden nur noch mehr Leute ihr Leben verlieren.“
Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Dafür haben wir keine Zeit.“
„Nein, wir haben keine Wahl“, entgegnete Varian. Auch jetzt ließ er seine Stimme ruhig und besonnen erklingen, und aus irgendeinem Grund machte das Jaina wütend. „Wir haben es hier mit einem Krieg zu tun, der sich über zwei ganze Kontinente ausbreiten könnte, vielleicht sogar bis nach Nordrend. Falls ich in einen solchen Weltkrieg eintrete, in dem es keine sicheren Grenzen mehr gibt, werde ich mir vorher einen Plan zurechtlegen. Falls wir dagegen einfach Hals über Kopf losstürmen, werden wir der Horde nur die Arbeit abnehmen.“
Jaina blickte zu Anduin hinüber. Schweigend stand er da, sein Gesicht war blass, die blauen Augen betrübt, aber er machte keine Anstalten, seinen Vater und seine Freundin bei dieser Auseinandersetzung über einen weltumspannenden Krieg zu unterbrechen. Kurz darauf richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf Varian.
„Ich habe etwas in meinem Besitz, das uns helfen könnte“, erklärte sie. „Eine sehr mächtige Waffe ist mir in den Schoß gefallen. Sie kann Orgrimmar zerstören, ebenso sicher und vollständig, wie die Horde Theramore zerstört hat. Aber wir müssen jetzt handeln, solange ihre Armeen so töricht in Orgrimmar versammelt sind. Andernfalls vertun wir eine einmalige Gelegenheit!“
Bei den letzten Worten wurde ihre Stimme lauter, und sie stellte fest, dass sie die Hände zu Fäusten geballt hatte. Es wäre mehr als gerecht, die Fokussierende Iris gegen Garrosh und sein geliebtes Orgrimmar einzusetzen. „Wir können sie allesamt auslöschen. Jeden einzelnen dieser grünhäutigen …“