Es waren nicht so sehr die Worte selbst, die Kalecgos überraschten, vielmehr war es die Person, von der sie kamen. Die Anschuldigung, ausgesprochen in sanftem Tonfall, deshalb aber nicht weniger verblüffend, stammte nämlich aus Kirygosas Mund. Sie hatte sich in die letzte Reihe zurückgezogen und stumm zugehört, doch nun trat sie nach vorn.
„Jaina hat mir geholfen, sie zu finden“, entgegnete Kalec, der instinktiv Partei für die Lady Prachtmeer ergriff. „Sie wusste bereits vor der … sie wusste, welche Vernichtung die Iris anrichten könnte. Warum sollte sie das Artefakt denn willentlich an sich nehmen, ohne mir etwas davon zu sagen?“
„Vielleicht vertraut sie nicht darauf, dass sie bei dir sicher wäre“, meinte Kiry. Auch jetzt war keine Kritik in ihrer Stimme zu hören oder in ihrem Gesicht zu lesen, aber Kalec fühlte sich nichtsdestotrotz verletzt. „Vielleicht hat sie auch vor, das Artefakt gegen die Horde einzusetzen.“
„Jaina würde nie …“
„Du weißt doch gar nicht, was sie tun würde und was nicht“, unterbrach ihn Kirygosa. „Sie ist ein Mensch, Kalec, und du bist ein Drache. Ihr Königreich wurde von der Weltkarte getilgt, als hätte man es mit Tinte übermalt. Sie ist eine mächtige Magierin, und die Fokussierende Iris – das Instrument, das den Tod ihrer Untertanen herbeiführte – war in ihrer Reichweite. Wir dürfen diese Möglichkeit also nicht ausschließen. Vielmehr gilt es, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Falls sie über die Iris verfügt, müssen wir das herausfinden … und sie uns zurückholen. Ganz gleich, um welchen Preis. Dieses Artefakt gehört uns, ein Teil des Blutes, das vergossen wurde, klebt also an unseren Händen. Wir dürfen nicht zulassen, dass es noch ein weiteres Mal eingesetzt wird.“
An ihrer Logik gab es nichts auszusetzen. Kalec erinnerte sich daran, dass Jaina vor Zorn und Trauer ganz außer sich gewesen schien, als sie durch das Portal vor ihm geflohen war. Davon abgesehen hatte die arkane Magie der Explosion deutlich sichtbare Spuren an ihr hinterlassen. Ihr Haar war weiß verfärbt, ihre Augen glühten – wenn das schon die Folgen für ihren Körper waren, wie mochte die Manabombe dann erst ihr Wesen beeinflusst haben?
„Ich werde die Fokussierende Iris finden“, erklärte er mit schwerer Stimme. „Wer immer sie bei sich hat – Garrosh oder Jaina.“
Kiry zögerte kurz und wechselte einen Blick mit Teralygos. „Vielleicht wäre es das Beste, wenn dich einige von uns bei der Suche begleiten würden.“
Kalec musste die wütende Entgegnung, die ihm auf der Zunge lag, hinunterschlucken. Kiry war ihm stets eine gute Freundin gewesen; sie war ihm eine Schwester im Geiste, wenn auch keine Gefährtin. Sie lenkte den Verdacht nicht einfach nur auf Jaina, um ihn zu verletzen, sondern weil sie sich Sorgen machte. Darüber, dass seine Gefühle für die Lady Prachtmeer stark genug sein könnten, um ihn bei seinen Pflichten dem Schwarm gegenüber zu behindern. Zudem wusste sie, dass – falls sie recht hatte und Jaina die Iris besaß und einsetzte – Kalec sich das niemals verzeihen könnte.
„Ich bin dankbar für deine Sorge“, sagte er, „und ich weiß, du hast nur das Wohl unseres Volkes im Sinn, wenn du so sprichst. Bitte glaube mir, auch ich habe kein größeres Anliegen. Aber ich kann – und muss – mich allein um diese Angelegenheit kümmern.“
Anschließend wartete er. Sollte aus den Reihen der Drachen vehementer Protest erschallen, würde er nachgeben und tun, was der Rest des Schwarms für das Beste hielt. Schließlich hatten ihnen seine eigenen Entscheidungen bislang wirklich nicht zum Vorteil gereicht.
Glücklicherweise teilten die meisten der blauen Drachen Kirys Skepsis nicht. Vermutlich hielten sie es für ausgeschlossen, dass Jaina, eine einzelne Menschenfrau, eine echte Bedrohung darstellen konnte. Allein Kiry wusste, wie außergewöhnlich mächtig die Lady Prachtmeer wirklich war. Und das war auch der Grund dafür, warum sie sich nicht der Meinung der anderen anschloss.
„Dann ist es also entschieden“, meinte Kalec. „Ich werde euch nicht noch einmal enttäuschen.“
Er sprach die Worte ohne echte Überzeugung, aber wider alle Wahrscheinlichkeit hoffte er, dass sie am Ende doch der Wahrheit entsprechen würden. Denn wer konnte schon sagen, ob die verwundete Erde es überstünde, sollte er sich wieder irren?
Vor nicht allzu langer Zeit hatte der damalige Kriegshäuptling der Horde ein Gelage abgehalten, um die Veteranen zu empfangen, die im Nexuskrieg in Nordrend gegen Arthas gekämpft hatten. Garrosh erinnerte sich noch lebhaft an die prächtige Parade nach Orgrimmar – er selbst hatte sie schließlich vorgeschlagen. Davon abgesehen hatte ihn Thrall an jenem Abend geehrt und ihm die Waffe seines Vaters überreicht, deren beruhigendes Gewicht er nun auf seinem Rücken spürte.
Garrosh war stolz auf die Art, wie die Kämpfer der Horde in jenem Krieg gekämpft hatten. Doch noch größer war sein Stolz auf das, was er bei der Feste Nordwacht erreicht hatte. In Nordrend hatte zumindest ein Teil des Sieges der Allianz gebührt, und bei diesem Gedanken schmeckte er Abscheu, so trocken wie Asche, auf seiner Zunge. Jetzt hingegen war alles ganz so, wie es sein sollte. Jetzt kämpften sie gegen die Allianz. Gewiss, auch Thrall hätte einen solchen Krieg beginnen können, an der nötigen Macht hätte es ihm nicht gemangelt. Doch er hatte vor dieser hellhaarigen Menschenmagierin klein beigegeben und stattdessen für den Frieden gekämpft, als ob es zwischen den Orcs und ihren einstigen Unterdrückern überhaupt so etwas geben könnte. Garrosh war fest entschlossen, das für die Allianz zu werden, was Grommash Höllschrei für die Dämonen gewesen war; und genauso, wie sein Vater die Unterdrückung und Versklavung durch die Dämonen beendet hatte, als er Mannoroth tötete, so würde sein Sohn die nur auf den ersten Blick unscheinbareren Ketten des Friedens mit der Allianz sprengen. Früher oder später, da war er sich sicher, würden sogar Sturköpfe wie Baine und Vol’jin von der Richtigkeit seiner Entscheidungen überzeugt sein, und dann könnte es einen echten Frieden geben – nach den Regeln der Horde, auf Blut errichtet und durch Blut bewahrt.
Darum hatte er befohlen, dass dieser Empfang, dieser Triumphzug der Sieger in die Hauptstadt der Horde, selbst Thralls Feierlichkeiten in den Schatten stellen sollte. Zudem würde es nach der Parade weit mehr geben als nur ein Festgelage. Nein, Garroshs Anweisungen lauteten, dass sechs Tage lang gefeiert werden sollte. Es würde Raptorkämpfe in der Arena geben, Sparringskämpfe, in denen die besten Krieger der Horde ermittelt und mit großen Säckeln voll Gold belohnt werden sollten! Dazu ein Gelage nach dem anderen, begleitet von Lok’tras und Lok’vandnods, während man die Straßen der Stadt mit gutem orcischem Bier überfluten würde.
Als er sich mit seinem Gefolge nun den Toren von Orgrimmar näherte, sah Garrosh voller Freude, dass sich die Menge jubelnder Hordemitglieder nicht vor ihm teilte. Stattdessen riefen sie seinen Namen, bis er laut wie Donner erschallte, und Garrosh warf Malkorok einen zufriedenen Blick zu, während er die Lobpreisungen in sich aufsaugte.
„Garrosh! Garrosh! Garrosh! Garrosh!“
„Sie lieben Euch zu sehr, um Euch einfach durchzulassen“, meinte der Schwarzfelsorc. Er musste schreien, um das Johlen zu übertönen. „Erzählt Ihnen von Eurem Sieg! Sie möchten die Geschichte von Euren Lippen hören!“
Garrosh ließ seinen Blick noch einmal über die Menge schweifen, dann brüllte er: „Soll ich Euch von meiner Vision erzählen?“
Er hatte nicht gedacht, dass es möglich wäre, doch das Jubeln der Orcs wurde jetzt noch ohrenbetäubender. Garroshs Grinsen zog sich in die Breite, als er ihnen mit einer Handbewegung bedeutete, still zu sein.
„Mein Volk! Ihr könnt euch glücklich schätzen. Nicht alle Orcs leben in einer so geschichtsträchtigen Zeit wie dieser. In einer Zeit, da ich, Garrosh Höllschrei, Kalimdor für die Horde zurückerobern werde. Die Menschen sind wie eine Krankheit, und sie haben sich in Theramore festgesetzt. Die Insel musste durch die Essenz arkaner Magie gereinigt werden. Jetzt gibt es dort keine Menschen mehr! Jaina Prachtmeer wird unser Volk nicht länger mit ihren sanftmütigen Parolen des Friedens kastrieren. Wir haben uns nicht von ihren Worten lenken lassen, und jetzt ist ihr Königreich nichts weiter als Staub. Doch das ist noch nicht genug. Als Nächstes werden wir uns um die Nachtelfen kümmern. So lange schon haben sie uns die grundlegendsten Bedürfnisse verwehrt. Wir werden ihnen ihre Städte nehmen und ihr Leben, und die wenigen, die wir nicht töten, sollen Flüchtlinge in den Östlichen Königreichen werden. Ich, Garrosh, werde ihnen ihren Hochmut austreiben und dafür sorgen, dass sie um ein paar Brotkrümel und einen Platz zu schlafen betteln, während wir, die Horde, uns ihre Reichtümer aneignen. Ihre Städte sind durch die mächtigen Kriegsschiffe der Horde von jeder Unterstützung abgeschnitten, und sobald wir bereit sein werden, in ihre Gebiete einzufallen, werden sie unter unseren Klingen fallen wie das Getreide unter der Sense!“