„Dann werdet Ihr also nicht versuchen, Euch einen Weg durch die Blockade freizukämpfen?“, fragte Anduin.
„Nein. Unsere Energien sind zu diesem Zeitpunkt am sinnvollsten genutzt, wenn wir zusammenarbeiten. Die Leben, die wir opfern, sollen nicht umsonst zugrunde gehen, Anduin. Und unsere Chancen auf einen Sieg stehen besser, wenn wir gemeinsam an unserer Strategie arbeiten.“
Anduins goldenes Haupt wandte sich wieder den Schiffen im Hafen zu. „Warum hat die Horde das getan? Sie wussten nicht, dass wir die Zivilisten in Sicherheit gebracht hatten. Sie haben einfach …“ Seine Stimme verhallte, und sanft legte Varian die Hand auf die Schulter seines Sohnes.
„Die einfache Antwort ist, dass die Horde nur aus Monstern besteht. Was sie getan haben, war ohne Zweifel monströs. Außerdem fallen mir zu Garrosh und seinen Kor’kron noch ein paar Worte ein, die ich nicht in der Gegenwart eines Kindes aussprechen möchte.“ Kurz lag der Hauch eines Grinsens auf Anduins Lippen, dann wurde er wieder ernst, als Varian fortfuhr: „Ich weiß nicht, warum, Sohn. Ich wünschte, ich könnte dir sagen, warum manche Personen solch schreckliche Dinge tun. Ich weiß, dass auch viele, die nicht zur Allianz gehören, im Stillen Kritik an Garrosh üben, aber das kann nichts an meinem Beschluss ändern.“
„Allerdings … wir werden doch nicht so kämpfen wie Garrosh, oder?“
„Nein“, antwortete Varian. „Das werden wir sicherlich nicht.“
„Aber falls er bereit ist, Dinge zu tun, vor denen wir zurückschrecken … bedeutet das denn nicht, dass er uns besiegen wird?“
„Nicht, solange noch Leben in diesem Körper steckt“, brummte Broll.
„Oder in diesem“, fügte Varian hinzu. „Die Welt ist … aus den Fugen geraten. Ich habe in der Grube Gewalt und Blut und Wahnsinn gesehen, aber niemals hätte ich erwartet, dass ich einmal so etwas sehen würde wie das, was Jaina miterleben musste.“
„Glaubst … glaubst du, sie wird sich wieder erholen? Von dem Schmerz, den ihr diese Ereignisse zugefügt haben?“
„Ich hoffe es.“ Diese Worte waren alles, was Varian darauf erwidern konnte. „Ich hoffe es.“
22
Die Violette Zitadelle wirkte still und düster, als Jaina die Steinstufen aus der Eingangshalle langsam hinaufstieg. Schmerz erfüllte diesen Ort. Einst hatte sie sich in Dalaran fröhlich und unbeschwert gefühlt, was natürlich zum einen Teil an der Eleganz der Bauwerke und Verzierungen lag, vor allem aber daran, dass die Magie an diesem Ort allgegenwärtig schien. Jetzt hingegen fühlte sich die Stadt an, als lastete … ein schweres Gewicht auf ihr. Jaina, die ihre eigenen Bürden tragen musste, konnte es spüren, und sie empfand ein tiefes Mitgefühl mit all denen, die so viel verloren hatten.
Mehrere äußerst mächtige Magier, einschließlich des Anführers der Kirin Tor, dazu ein Verräter, der zumindest einen Teil der Verantwortung für diese bitteren Verluste trug. Kein Wunder, dass selbst die Luft in Dalaran mit Trauer vollgesogen schien.
„Lady Prachtmeer“, sagte eine brüchige Stimme hinter ihr, und als Jaina sich umdrehte, traf sie ein erneuter Stich des Mitgefühls.
Vereesa Windläufer stand allein in der großen Eingangshalle, gekleidet in einen neuen Plattenpanzer, der in mehreren Silber- und Blautönen schimmerte. Alle Wunden, die sie während der Schlacht davongetragen haben mochte, waren inzwischen wieder vollständig oder zumindest größtenteils verheilt – alle bis auf eine, die nie verheilen würde, wie Jaina wusste.
Die Witwe von Rhonin wirkte so teilnahmslos, als wäre sie nicht mehr als eine zum Leben erwachte Statue. Allein der Zorn, der in ihren blauen Augen funkelte, störte dieses Bild, und Jaina fragte sich, ob diese Wut wohl der Horde galt, die ihren Ehemann umgebracht hatte, oder vielleicht ihr? Oder gar sich selbst, weil sie überlebt hatte?
„Waldläufergenerälin Vereesa“, grüßte sie. „Ich … mir fehlen die Worte.“
Vereesa schüttelte den Kopf. „Worte sind bedeutungslos“, erklärte sie rundheraus. „Allein Taten zählen. Ich habe auf Euch gewartet, seit ich hörte, dass Ihr noch lebt, denn ich wusste, Ihr würdet kommen. Nun stehe ich also vor Euch und bitte Euch: Helft mir, das zu tun, was ich tun muss. Ihr habt überlebt; mein geliebter Gatte nicht. Ihr, ich und eine Handvoll Nachtelfen aus der Schildwache sind die Einzigen, die noch Zeugnis von dem Blutbad in Theramore ablegen können. Ihr seid gewiss hier, um mit den Kirin Tor zu sprechen. Dürfte ich fragen, was Ihr ihnen zu sagen gedenkt?“
Jaina wusste, dass Vereesa die Leiterin des Silberbundes war, einer Vereinigung, die die Hochelfin selbst gegründet hatte, um einem möglichen Verrat durch die Sonnenhäscher entgegenzuwirken – das waren jene Blutelfen, denen man Zutritt zu den Reihen der Kirin Tor gewährt hatte. In dieser Funktion suchte Vereesa die Öffentlichkeit und übte auch offen Kritik, im Kreise der Kirin Tor hatte sie jedoch offiziell keine Stimme. Jaina eigentlich ebenso wenig, aber sie war die einzige Überlebende, die aus erster Hand von dieser Katastrophe berichten konnte. Außerdem hatte Rhonin ausgerechnet sie durch ein Portal in Sicherheit gebracht, noch während er die Manabombe zu sich herangezogen hatte – Vereesa wusste also, dass man ihr eine Audienz gewähren würde. Jetzt, da Rhonin fort war, musste Jaina plötzlich wieder an ihre Unterhaltung denken, daran, wie er ihr gesagt hatte, dass viele bei den Kirin Tor wünschten, sie hätte einen anderen Pfad gewählt und sich ihren Reihen angeschlossen.
Es traf zu, Jaina war kein Mitglied der Kirin Tor, aber sie würde ohne jeden Zweifel vor ihnen sprechen dürfen.
Vereesa blickte sie noch immer an, ihr Gesicht stellte eine undurchdringliche Maske dar, hinter der sich sicherlich ein Mahlstrom aus Verzweiflung und Wut verbarg. Plötzlich von ihren eigenen Gefühlen überwältigt, trat Jaina auf sie zu, und die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus. „Rhonin dachte nur an zwei Dinge, als er starb. Er wollte die Gewissheit, dass Ihr überlebt – und er wollte mich in Sicherheit bringen. Er hat unser beider Leben gerettet, indem er sein eigenes opferte.“
„… was?“
„Die Bombe landete nur deshalb an dieser Stelle, weil Rhonin sie zu sich heranzog. Der Turm war schwer befestigt und durch Magie geschützt. Er glaubte, dort richte die Explosion weniger Schaden an als …“
Erste Risse zeigten sich in der Fassade, als Vereesa eine zitternde Hand an die Lippen hob, doch sie lauschte weiter auf Jainas Worte.
„Er – er sagte mir, ich müsse überleben, weil ich die Zukunft der Kirin Tor wäre, und dass wir beide sterben würden, falls ich nicht durch das Portal ginge, das er unter solchen Mühen offen hielt – dann wären all seine Anstrengungen umsonst gewesen. Als ich mich weigerte zu gehen, da stieß er mich hindurch. Vereesa, ich weiß nicht, warum er das getan hat. Theramore war doch meine Stadt; ich hätte für sie sterben sollen. Stattdessen war er es, der sich opferte. Und solange ich lebe, werde ich das nicht vergessen. Ich werde alles tun, um mich seines Opfers als würdig zu erweisen. Ich war dort, Vereesa. Ich weiß, was er getan hat. Und ich werde dem Rat vorschlagen, dafür zu sorgen, dass die Horde nie, niemals wieder eine so mächtige Stellung innehaben wird. Damit niemals wieder jemand so entsetzlich leiden muss wie wir.“
Vereesas Lippen verzogen sich zu einem bebenden Lächeln. Bevor sich Jaina versah, hatte die andere Frau sie fest umarmt, und sie spürte warme Tränen an ihrem Hals.
Zum zweiten Mal innerhalb einer Woche stand Jaina in der Kammer der Luft. Alles sah genauso aus wie bei ihrem letzten Besuch, sofern etwas, das sich ständig veränderte, überhaupt genauso aussehen konnte. Der schlichte graue Steinboden unter ihren Füßen war derselbe, und das Bild eines ewig von Tag zu Nacht und von Sturm zu Sternenzelt wechselnden Himmels schien ihr zumindest vertraut zu sein. Dennoch war nun nichts mehr so wie noch vor ein paar Tagen. Der erhabene Ausblick faszinierte sie nicht länger, ebenso wenig fühlte sie sich geehrt, vor dem Rat der Sechs sprechen zu dürfen. Völlig ungerührt blickte sie in die Gesichter der verbliebenen Ratsmitglieder.