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Pakke wandte einen Moment den Blick ab, und Jaina erkannte, dass er dem Läuten des Glockenturms lauschte. Doch bevor sie sich dafür entschuldigen konnte, dass sie die beiden so lange aufgehalten hatte, rutschte der Gnom von seinem Stuhl. „Es ist neun Uhr.“

„Oh ja!“ Jetzt fiel es ihr wieder ein. „Ihr entzündet die Straßenlaternen in Dalaran. Ich möchte Euch nicht weiter aufhalten.“

Der kleine Magier schluckte hart, und dann funkelten seine hellen Augen noch heller, als sie sich mit Tränen füllten. „Begleitet mich doch auf meiner Runde“, schlug er vor. „Ich habe … eine Sondergenehmigung. Zwar nur für einmal, aber … es würde mir viel bedeuten.“

Kurz flackerte wieder Jaxis altes Selbst auf, während sie die beiden vor sich her zum Eingang des Gasthauses scheuchte. „Ich habe ihn schon auf seiner Runde begleitet“, erklärte sie. „Ich glaube, es wäre gut, wenn Ihr mit ihm ginget.“

Jaina war verwirrt, aber Schmerz und Schuldgefühle hatten sie noch immer so fest in ihrem Griff, dass sie vermutlich alles tun würde, worum die Funkenleuchters sie bitten mochten. So folgte sie Pakke nach draußen, wobei sie ihre Schritte verlangsamte, damit sie den Gnom nicht sofort überholte.

Er schlurfte auf die Straße, und nachdem er unter einer der Laternen stehen geblieben war, zog er einen kurzen Stab mit einem beinahe schon kindisch wirkenden Stern an der Spitze hervor. Mit mehr Anmut, als man ihm eigentlich zutrauen wollte, richtete er den Stab auf die Lampe.

Ein Funke stob von der Spitze und tanzte wie ein Glühwürmchen durch die Luft. Doch die glühende magische Flamme entzündete die Laterne nicht sogleich; stattdessen malte sie Linien in die Luft oberhalb der Lampe. Jainas Augen weiteten sich, dann füllten sie sich mit Tränen.

Denn das goldene Licht zeichnete die Gestalt eines lachenden Gnomenmädchens mit Zöpfen nach. Nachdem die letzte Linie gezogen war, erwachte die winzige Gestalt kurz zum Leben, und als sich kleine Hände vor einen lachenden Mund hoben, hätte Jaina schwören können, dass sie Kinndys Stimme hörte. Das Bild verschwamm vor ihren Augen, und als sie zu Pakke hinabblickte, sah sie, dass auch der Gnom weinte. Seine Lippen hatten sich jedoch zu einem liebevollen Lächeln verzogen. Einen Moment später lösten sich die goldenen Linien auf und flossen zu einem größeren Feuerball zusammen, der anschließend unter den Schirm der Lampe glitt. Nun, da die Laterne entzündet war, schlurfte Pakke zur nächsten hinüber. Jaina blieb, wo sie war, und beobachtete, wie der Magier seiner ermordeten Tochter auch dort Tribut zollte, indem er sie für ein paar Sekunden wieder zum Leben erweckte. Sie war sich sicher, dass er dieses Ritual von nun an jede Nacht zelebrieren würde. Irgendwann, wenn die Tragödie aus dem Gedächtnis der Leute von Dalaran verblasst wäre, würde man ihn wahrscheinlich bitten, die Straßenlaternen wieder auf die übliche Weise zu entzünden. Doch fürs Erste sollten die Bewohner der schwebenden Stadt Gelegenheit bekommen, Kinndy noch einmal so zu sehen, wie Jaina und ihre Eltern sie gekannt hatten – strahlend und fröhlich, mit einem Lachen auf dem Gesicht.

Es dauerte nicht lange, und Jaina wurde wieder in die Kammer der Luft bestellt. Zum nunmehr dritten Mal stand sie in der Mitte jenes bizarren, aber wunderschönen Raumes und musterte die Mitglieder des Rates mit erzwungener Ruhe.

„Lady Jaina Prachtmeer“, sagte Khadgar. „Bevor ich Euch unsere Entscheidung mitteile, sollt Ihr dies wissen: Jedes einzelne Mitglied dieses Rates verurteilt den Angriff auf Theramore aufs Schärfste. Es war ein Akt der Grausamkeit und Feigheit. Wir werden unser Missfallen der Horde gegenüber unmissverständlich zum Ausdruck bringen und sie warnen, nie wieder eine derart skrupellose Zerstörung zu säen. Aber dies sind schwere Zeiten, vor allem für jene von uns, die Magie beherrschen, einsetzen und kontrollieren. Vor wenigen Tagen beschlossen wir, Euch mit unserer Erfahrung und unserer Weisheit zu unterstützen. Wir erklärten uns sogar bereit, bei der Verteidigung von Theramore mitzuwirken. Wegen dieser Entscheidung wurden wir durch einen unserer eigenen Magier verraten und haben mehrere wertvolle Mitglieder verloren, darunter auch unseren Anführer, Erzmagier Rhonin. Die Magie steht in dieser Welt nun auf schwerem Posten, Lady. Niemand weiß, wer was tun soll. Die blauen Drachen haben nicht länger einen Aspekt, sie haben ein wertvolles Artefakt verloren. Und nun wurde dieser Gegenstand benutzt, um eine Stadt zu zerstören. Auch wir haben keinen Anführer mehr, der uns führen oder die Verantwortung übernehmen könnte.“

Jaina spürte ein Prickeln in ihrer Magengegend und musste an sich halten, um die Hände nicht zu Fäusten zu ballen. Sie wusste, was jetzt kommen würde.

„Wir können uns nicht um Azeroth kümmern, solange wir nicht Ordnung in unsere eigenen Reihen gebracht haben“, fuhr Khadgar fort. „Wir müssen uns neu sammeln und herausfinden, was in der Vergangenheit fehlgegangen ist. Wir können Euch nicht anbieten, was wir nicht haben, Lady. Und wir haben keine Gewissheit darüber, was als Nächstes geschehen muss. Ihr habt darum gebeten, dass wir die geballte Macht aller Magier gegen Orgrimmar wenden und eine ganze Stadt mit Zerstörung überziehen. Das können wir nicht tun, Jaina. Es ist unmöglich. Erst vor Kurzem sind wir reif genug geworden, um Vertreter der Horde – die Sonnenhäscher – in unseren Reihen zu akzeptieren, und nun sollen wir auf Euer Drängen hin Orgrimmar vernichten? Die Welt würde in einem Bürgerkrieg versinken. Mehr noch, wir selbst würden dafür sorgen, dass diese Stadt, die schon so viel durchleiden musste, ebenfalls auseinanderbräche. Doch auch, wenn dem nicht so wäre, falls Dalaran und die Kirin Tor so fest geschlossen wären – es gibt Händler und Handwerker und Gastwirte und Reisende in Orgrimmar, die nicht gegen Theramore marschiert sind. Beim Licht, es gibt sogar ein Waisenhaus in der Stadt, Mylady! Wir können – und wir werden – nicht Krieg gegen Unschuldige führen.“

Es dauerte eine Weile, bevor sich Jaina wieder so weit beruhigt hatte, um beherrscht sprechen zu können. „Die Waisen werden zu Kriegern der Horde heranwachsen“, sagte sie. „Man wird ihnen beibringen, uns zu hassen und gegen uns zu kämpfen. Es gibt keine Unschuldigen in dieser vom Licht verlassenen Stadt, Khadgar. Es gibt überhaupt keine Unschuldigen. Nicht mehr.“

Bevor Khadgar etwas erwidern konnte, öffnete Jaina ein Portal. Das Letzte, was sie sah, bevor sie hindurchtrat, war, wie sich die jungen – alten – Augen des Magiers mit Bedauern füllten.

Sie teleportierte sich nicht weit fort. Ihr Ziel war die Hauptbibliothek, ein Ort, den sie zum letzten Mal gesehen hatte, als sie noch in Dalaran gelebt und studiert hatte. Als sie, von einem der Bibliothekare begleitet, über die Schwelle trat, spürte sie kurz, wie die Luft in dem Raum gegen ihren Körper drückte, bevor sie sich teilte. In der Vergangenheit hatte sie einen Erkennungszauber wirken müssen, um die Bibliothek sicher betreten zu können; diesmal hatte der Bibliothekar, der sich noch immer an sie erinnerte, dies für sie übernommen.

Der Mann respektierte ihren Wunsch, sich allein zwischen den Büchern umzusehen. Er blickte sie mit einem traurigen, mitfühlenden Lächeln an, das sie an Khadgar erinnerte, und auch wenn sie sein Mitgefühl nicht wollte, würde sie es doch bereitwillig benutzen, um ihr Ziel zu erreichen. Denn ihre Bitte, er möge sie in dem gewaltigen Saal mit den unzähligen Büchern allein lassen, hatte nichts mit dem Bedürfnis nach Ruhe und Reflexion zu tun, das sie ihm vorspielte.

Sobald das Geräusch seiner Schritte verhallt war und sie sicher sein konnte, nicht mehr gestört zu werden, wandte Jaina ihre Aufmerksamkeit den Regalen zu. Es war eine einschüchternde Aufgabe, die sie sich gestellt hatte. Reihe um Reihe an Büchern erstreckte sich über die ganze Weite des Raumes, bis hoch unter die Decke. Jaina wusste aus Erfahrung, dass es keine echte Ordnung gab; Chaos und willkürliche Ablagesysteme sollten gewöhnliche Diebe verwirren, ohne Magier bei ihrer Suche zu behindern.