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Sie hob die rechte Hand, und kleine glühende Punkte erschienen über ihren Fingerkuppen. Anschließend presste sie die Finger einen Augenblick lang gegen ihre Schläfen, und als sie nun wieder den Arm ausstreckte, lösten sich die schwachen, violett leuchtenden Lichter von ihren Fingerspitzen und glitten zum obersten Fach eines Regals hoch, wie winzige Ranken aus glühendem Dunst. Während Jaina mit ihren normalen Sinnen die Titel der Bücher und die Beschriftungen auf den Kästchen überflog, in denen Schriftrollen gesammelt waren, unterstützten die arkanen Dunstfäden ihre Suche auf magische Weise.

Die Zeit verging. Immer wieder stieß sie auf Wälzer, mit denen sie sich früher bereitwillig mehrere Tage lang in ihr Zimmer zurückgezogen hätte. Nun hatte Jaina jegliches Interesse an ihnen verloren. Ihre Gedanken galten einzig und allein ihrem Ziel. Titel um Titel arbeitete sie sich an den Reihen der Bücherrücken entlang, und ein ums andere Mal schüttelte sie nur den Kopf. Doch es musste hier sein. Dies war schließlich Dalaran.

Da sah sie plötzlich aus den Augenwinkeln, wie in einer Ecke der Bibliothek ein Licht aufglühte. Sie drehte sich mit einem Lächeln herum. Eine der kleinen arkanen Ranken war fündig geworden, in einem Regal, das einige der seltensten und gefährlichsten Bände in der gesamten Bibliothek enthielt. Dort standen Bücher, die man mit magischen Siegeln verschlossen hatte, und sogar solche, die unsichtbar waren.

Rasch huschte Jainas Blick über die Titel. Träumen mit Drachen: Die Wahre Geschichte der Aspekte von Azeroth. Tot, Untot und Was Dazwischen Liegt. Das Wissen der Titanen.

Das Sechste Element: Fortführende Methoden der Arkanen Verstärkung und Manipulation.

Vorsichtig legte sie die Hand auf den Rücken des Buches. Es fühlte sich an, als würde sie ein lebendes Wesen berühren. Es … schien sich unter ihren behutsamen Fingern regelrecht zu winden, und kaum dass sie es aus dem Regal gezogen hatte, begann es violett zu glühen, während das Summen von Warnzaubern ertönte. Jaina keuchte, und beinahe hätte sie das Buch fallen gelassen, als eine Wolke purpurnen Rauches aufstob und ein Bild formte.

Es war das Gesicht von Erzmagier Antonidas, der sie ernst und warnend anzublicken schien. „Dieses Buch ist nicht für unvorsichtige Hände oder neugierige Augen bestimmt“, erklärte seine vertraute, geliebte Stimme. „Wissen darf nicht verloren gehen, aber es darf auch nicht leichtfertig eingesetzt werden. Also halte deine Hand zurück – oder fahre fort, so du denn den Weg kennst!“

Jaina biss sich auf die Lippe, als sich Antonidas Züge auflösten. Jeder Magier, der ein Buch in die Bibliothek stellte, belegte es mit seinem oder ihrem eigenen Siegelzauber. Das bedeutete, dass Antonidas diesen Folianten einst entdeckt und anschließend hier auf dieses Regal gestellt haben musste, beides vermutlich schon lange vor Jainas Geburt. Der Staubschicht nach zu urteilen, die sich darauf gebildet hatte, war es seither nicht mehr gelesen worden. Musste dies vielleicht als eine Art Zeichen verstanden werden? War es ihr bestimmt gewesen, diesen Wälzer zu finden?

Das Buch glühte weiter vor sich hin, und da Jaina nicht die entsprechenden Worte kannte, um es zu öffnen, musste sie auf eine weniger vornehme Methode zurückgreifen. Es war möglich, das arkane Siegel zu brechen, aber dabei war schnelles Handeln gefragt, weil sonst die magischen Alarme ausgelöst würden. Sie ließ sich auf einen der bequemen Stühle in der Bibliothek fallen und legte das Buch auf ihren Schoß, dann holte sie tief Luft, um ihre Atmung zu beruhigen und ihren Geist zu befreien. Anschließend blickte sie auf ihre rechte Hand hinab und murmelte eine Zerschlagungsbeschwörung. Ein heller violetter Schein hüllte ihre Finger ein.

Nun hob sie auch die Linke und konzentrierte sich. Die Hand begann, vor ihren Augen zu verschwinden, und nur der blasse purpurne Schimmer rings herum blieb sichtbar.

Es konnte gelingen, aber sie musste schnell handeln. Nach einem letzten, beruhigenden Atemzug legte sie ihre rechte Hand auf das Buch.

Brich das Siegel!

Das violette Glühen, das ihren Fingen entströmte, tanzte und zuckte in winzigen Blitzen über den Einband. Jaina konnte spüren, wie die magischen Ketten, die Antonidas um das Werk geschlungen hatte, zerbrachen, wie sich das Buch … unter Schmerzen wand, als es gegen seinen Willen aufgezwungen wurde. Sie starrte darauf hinab, wagte es nicht zu blinzeln, und dann, genau in dem Augenblick, in dem die violetten Blitze verblassten, schlug sie mit der linken Hand auf das Buch hinunter.

Still!

Ein Feld aus hellem, weißem Licht hüllte den Wälzer ein und brachte den magischen Schrei zum Verstummen, der den Seiten entfloh. Nach ein paar Sekunden ließ der Schimmer um ihre Hände nach, während gleichzeitig ihre Linke wieder sichtbar wurde.

Sie hatte es geschafft.

Rasch, aber vorsichtig, mit Rücksicht auf das Alter des Buches, blätterte sie sich durch die Seiten, auf denen Illustrationen zahlreicher magischer Artefakte abgebildet waren. Die meisten von ihnen erkannte Jaina nicht; so vieles, schien es, war im Laufe der Zeit verloren gegangen …

Ah, da war es! Die Fokussierende Iris. Hastig las Jaina, wobei sie die faszinierenden, im Moment aber für sie uninteressanten Abschnitte übersprang, in denen erklärt wurde, wie die blauen Drachen den Gegenstand dereinst erschaffen hatten. Auch das, wofür die Iris in der Vergangenheit eingesetzt worden war, kümmerte sie jetzt nicht. Schließlich hatte sie schon mit eigenen Augen gesehen, was das Artefakt anrichten konnte. Nein, sie wollte viel eher wissen, was sie nun mit der Iris tun konnte.

… Verstärkung. Jeglicher arkane Befehl gewinnt an Macht, wenn das Objekt in die entsprechende Richtung gerichtet wird. Es ist die Theorie dieses Autors, dass das Arkane ein eigenes Element darstellt, und er verweist in diesem Zusammenhang auf die Tatsache, dass die Fokussierende Iris in mindestens einem dokumentierten Fall benutzt wurde, um mehrere Elementarwesen zu versklaven, zu führen und zu kontrollieren.

Jaina wurde beinahe schwindelig. Sie stand auf, und nachdem sie sich noch einmal umgeblickt hatte, um sicherzugehen, dass sie allein sich in dem gewaltigen Saal befand, hüllte sie das Buch behutsam in ihren Umhang. Anschließend ging sie zur Tür und stieg dann hastig die Stufen der Treppe hinab. Einen einzigen Ort gab es noch, den sie in Dalaran besuchen musste, bevor sie sich auf ihren einsamen Rachefeldzug begab.

23

Jaina selbst hatte die Statue entworfen, und sie hatte auch die Kosten für das Material übernommen und den Künstler ausgewählt. Jetzt wachte Antonidas über der Stadt, für die er sein Leben gegeben hatte. Zudem war die Statue mit einem Zauber belegt, sodass sie zwei Meter über dem Gras schwebte. Unter dem Bildnis des großen Mannes verkündete eine Plakette:

ERZMAGIER ANTONIDAS, GROSSMAGUS DER KIRIN TOR

DIE GROSSE STADT DALARAN STEHT ERNEUT – ZEUGNIS DER BEHARRLICHKEIT UND DES WILLENS IHRES GRÖSSTEN SOHNES.

EURE OPFER WERDEN NICHT UMSONST GEWESEN SEIN, GELIEBTER FREUND.

IN LIEBE UND BEWUNDERUNG, JAINA PRACHTMEER

Jaina trat auf das weiche Gras und blickte zu ihrem Freund hinauf. Der Bildhauer war äußerst talentiert gewesen, hatte er es doch geschafft, Antonidas’ Mischung aus Ernst und Güte einzufangen. In der einen Hand des Magiers drehte sich eine kleine Kugel, die vor magischer Energie leuchtete, in der anderen trug Antonidas seinen Hohestab, Archus.

Das Buch hatte Jaina noch immer unter ihrem Umhang verborgen, wo es in die Falten des Stoffes hineingewickelt war, damit kein wachsames Auge es erspähen konnte. Es fühlte sich fest und beruhigend an, und sie legte ihre Hand darauf.

Die Erinnerungen strömten durch ihren Geist. Und hier, im Schatten der Statue ihres Mentors, waren sie zum größten Teil sogar schmerzlos. Dieser Mann hatte ein großes Potenzial in ihr gesehen und sie mit Freude, Enthusiasmus und Stolz ausgebildet. Sie dachte an die langen Gespräche, die sie über esoterische Angelegenheiten und die Feinheiten der Magie geführt hatten, zum Beispiel in welchem Winkel zum Körper man die Finger bei einer Beschwörung halten sollte. Damals waren sie beide sicher gewesen, dass Jaina schnell in der Hierarchie von Dalaran aufsteigen und eines Tages vielleicht sogar zu den Kirin Tor gehören könnte. Weder er noch sie hatten daran gezweifelt, dass die Stadt ihre Heimat bleiben würde.