„Ist … ist schon jemand … in Theramore gewesen?“, fragte Gelbin leise.
Es folgte ein Augenblick unbehaglichen Schweigens. „Lady Jaina“, sagte Anduin dann.
„Ja, richtig“, erwiderte Gelbin. „Was für ein Glück, dass sie überlebt hat. Da wir gerade von ihr sprechen, ich nehme an, es gibt einen guten Grund, warum sie heute nicht hier ist, um eine Strategie mit uns auszuarbeiten, oder?“
„Lady Jaina nimmt sich des Problems auf ihre eigene Weise an“, schaltete sich Varian nun schließlich in die Unterhaltung ein. Alle Blicke wandten sich ihm zu. „Sie ist zu … ungeduldig, um mit uns zusammenzuarbeiten. Und ich kann ihr keinen Vorwurf daraus machen. Nach dem, was sie durchgemacht hat – nicht einmal ich weiß, wie sie sich fühlen muss, obwohl ich schon ganz ähnliches Leid durchstehen musste.“
„Was in Theramore geschehen ist, darf sich nicht wiederholen“, erklärte Taluun. „Nie wieder. Jedes vernunftbegabte Wesen muss solche Akte der Grausamkeit verurteilen und ihnen auf ewig abschwören, andernfalls könnten wir alles verlieren, was es uns erlaubt, das Licht zu berühren.“
Zustimmendes Gemurmel erklang. Varian sah zu Anduin hinüber und nickte unmerklich. Die blauen Augen des Jungen hatten sich mit Trauer gefüllt, als die Rede auf Jaina gekommen war, aber nun verengten sie sich leicht, als ein schwaches Lächeln über sein Gesicht huschte.
„Ich stimme Euch zu“, sagte Varian anschließend. „Aber in einem Punkt hat Lady Jaina vielleicht doch recht. Ich habe viel darüber nachgedacht, und … ich glaube, wir sollten nicht versuchen, die Blockade zu durchbrechen. Noch nicht zumindest.“
Ein Chor überraschter Stimmen antwortete ihm, die teils höflich, teils ungestüm protestierten. Varian hob die Hände. „Lasst mich aussprechen“, forderte er, ein wenig lauter nun, um das Gemurre zu übertönen, ohne dabei aber wirklich zu schreien. Die anderen verstummten, wenn sie auch nicht sonderlich glücklich dreinblickten.
Er fuhr fort: „Normalerweise würde uns die Weisheit gebieten, das zu tun, was Broll und Genn vorgeschlagen haben: die Horde glauben machen, dass wir die Blockade bei der Mondfederfeste angreifen, um dann an der Dunkelküste zuzuschlagen. Wir durchbrechen ihren Sperrgürtel, befreien die Flotte der Elfen und setzen den Kampf daraufhin mit mehr Schiffen und Kriegern fort.“
„Das würde die Weisheit gebieten, ja“, brummte Drukan zustimmend, mit einem verärgerten Ausdruck auf dem Gesicht.
„Ich denke aber, dass wir diesen Plan – anstelle der Mondfederfeste die Dunkelküste anzugreifen – durchsickern lassen sollten. Um das Ganze noch glaubwürdiger zu machen, werden wir natürlich ein paar falsche Fährten legen müssen. Daraufhin wird Garrosh den Großteil seiner Flotte dorthin schicken, zur Dunkelküste – während wir direkt nach Orgrimmar segeln. Greifen wir ihn in seiner eigenen Hauptstadt an. Ich habe ebenfalls Spione, Genn, und sie melden mir, dass längst nicht jeder mit dem Führungsstil von Höllschrei zufrieden ist. Es fällt mir zwar schwer, das zu glauben, aber … es scheint auch in der Horde viele zu geben, die ebenso angewidert von den Ereignissen in Theramore sind wie wir. Also nehmen wir Garrosh gefangen und besetzen die Stadt. Chaos wird ausbrechen, und mit ein wenig Glück werden die Unzufriedenen in der Horde darin ihre Chance zum Aufstand erkennen. Doch selbst falls nicht, wird es noch immer ein wildes Durcheinander geben, und ich bin mir sicher, wir können ihre Hauptstadt gegen ihre Truppen halten.“
„Meine Leute werden die Leidtragenden sein, Varian“, murmelte Broll leise.
Varians Miene wurde weicher. „Ich weiß, mein Freund“, sagte er. „Aber das ist jetzt unsere Chance, dem Monster den Kopf abzuschlagen. Außerdem werden die Schiffe der Horde die Dunkelküste sofort wieder verlassen und Orgrimmar zu Hilfe eilen.“
„Das klingt nach Wahnsinn“, erklärte Genn mit einem knurrenden Unterton in der Stimme, während er Varian aus zusammengekniffenen Augen musterte. „Aber so tollkühn und überraschend, wie dieser Plan auch klingen mag, er könnte fast glücken.“
„Er würde außerdem eine Zeitersparnis bedeuten“, warf Taluun ein. „Der Weg nach Orgrimmar ist nicht so weit wie der zur Dunkelküste.“
Varian blickte sich um. Ein paar der Anwesenden schienen noch immer nicht zufrieden, aber zumindest erhob keiner mehr Widerworte. Er hoffte, dass sein Plan aufginge, denn sollte Garrosh ihnen auf die Schliche kommen oder der Angriff aus einem anderen Grund scheitern, dann würden sie beinahe die gesamte Flotte der Allianz verlieren. Übrig wären dann nur noch die Schiffe der Elfen, und die saßen bei der Dunkelküste und andernorts hinter der Blockade fest.
Doch er hatte das Gefühl, dass er das Richtige tat, und dieses Gefühl ließ sich nicht abschütteln. War es außerdem nicht das, was einen König ausmachte – die Bereitschaft, Entscheidungen zu fällen und die Verantwortung zu übernehmen, für den Erfolg ebenso wie für die Niederlage?
Zu guter Letzt war die Flotte im Hafen bereit. Verstärkt wurde sie durch mehrere prächtige Schiffe der Elfen und Draenei, die das Glück gehabt hatten, andernorts unterwegs zu sein, als die Blockade um Kalimdor errichtet wurde. In ihrem Prunk und ihrer Schönheit standen sie den zweckmäßigeren Schiffen aus den Werften der Menschen, Zwerge und Gnome in nichts nach, und in ihrer Gesamtheit schien diese Flotte das Hafenbecken beinahe zu sprengen. Es sah in der Tat ganz so aus, als erstreckte sich das Heer der Schiffe bis zum Horizont.
Entlang den Anlegestellen drängten sich die Schaulustigen, die meisten von ihnen waren Einwohner Sturmwinds, aber auch viele waren darunter, die teils weit gereist waren, um diesem historischen Ereignis beizuwohnen. Es war ein Meer aus lebenden Wesen am Rande des echten Meeres, dachte Varian, und er fragte sich, wie viele dieser Leute, die hierhergekommen waren, um sich von Geliebten, Freunden und Familienmitgliedern zu verabschieden, diese wohl heil und unversehrt wieder in Empfang nehmen könnten.
Das Wetter hätte für ihren Plan nicht geeigneter sein können: Es war ein heller Tag mit blauem Himmel und genug Wind, um die Schiffe voranzutreiben, ohne aber die See über Gebühr aufzurauen. Eine Kapelle spielte festliche, inspirierende Kriegsmärsche und die traditionellen Hymnen jeder Nation und Rasse, um sie alle daran zu erinnern, dass sie zusammengehörten.
Doch trotz dieser feierlichen Stimmung sah Varian einige ernste Mienen und sogar Tränen, als er seinen Blick über die Menge gleiten ließ. Dies war ein Krieg, nicht nur ein Scharmützel, von dem die Soldaten heute Abend wieder zurückkämen. Er hatte alles vorausgeplant, so gut es ihm möglich gewesen war, und obwohl die Adeligen versucht hatten, ihn davon abzubringen, würde er die Truppen selbst anführen. Er konnte von diesen Männern und Frauen nicht verlangen, dem Tod ins Angesicht zu schauen, wenn er nicht Schulter an Schulter neben ihnen stand. Als er nun auf die dritte Ebene des mehrstufigen Hafens hinaustrat und unter der gewaltigen Statue des brüllenden Löwen von Sturmwind stehen blieb, jubelten und winkten ihm seine Untertanen zu. Varian senkte die Arme, um Ruhe zu erbitten.
„Bürger der Allianz“, begann er, und seine Stimme hallte laut an die Ohren der erwartungsvollen Zuhörer. „Nur ein paar Tage ist es her, dass die Horde einen Akt der Grausamkeit begangen hat, der so kalkuliert, so hinterhältig war, dass die einzige Antwort darauf nur ein Aufruf zum Krieg sein kann. Ihr seid diesem Aufruf gefolgt. Ihr steht hier vor mir, bereit, zu kämpfen und falls nötig auch zu sterben, um zu verteidigen, was gut und richtig ist in dieser Welt. Die Horde hat diesen Krieg begonnen, nicht wir … aber, beim Licht, wir werden ihn beenden!“
Die Menge jubelte. Auf vielen Gesichtern glänzten zwar Tränen, doch diese Gesichter lächelten.