„Kennt Ihr diese Insel?“, wollte Nobundo wissen.
„In der Tat“, nickte Thrall. „Es war das Prügeleiland, südlich von Durotar.“
Die Schamanen wechselten mehrere Blicke. „Falls die Elemente so klar um Hilfe rufen, müssen wir darauf reagieren“, erklärte Muln.
Doch Nobundo schüttelte den Kopf. „Nein“, widersprach er. „Falls sie unsere Hilfe wollten, hätten sie uns allen diese Vision gezeigt. Sie wissen, dass wir nicht von hier fortkönnen. Und doch … haben sie um Unterstützung gebeten.“
Thrall nickte bedächtig. Aggra wirkte gequält, aber schicksalsergeben. „Sie haben sich direkt an mich gewandt“, sagte er. „An mich allein. Also ist es auch an mir, ihrem Ruf zu folgen und das Blutbad an meinem Volk zu verhindern. Aggra, Geliebte, du weißt, ich würde dich mitnehmen, aber …“
Sie lächelte hinter ihren Hauern. „Es ist deine Aufgabe, Go’el“, erklärte sie, „und ich werde jedem den Schädel spalten, der es wagt, in meiner Gegenwart zu sagen, dass du ihr nicht gewachsen bist.“
Unmerklich schmunzelte er. Ja, er musste der Aufgabe gewachsen sein. Könnte er wirklich Hunderte von versklavten Wasserelementaren befreien, damit sie nicht eine gesamte Stadt dem Erdboden gleichmachen mussten? Er hoffte es. Doch die Elemente waren weise; er wollte ihnen vertrauen. Langsam stemmte sich Thrall auf die Beine, und nachdem er seine Frau umarmt hatte, ging er zu seinem kleinen Zelt hinüber, um das wenige zu packen, das er für die Reise brauchen würde.
Vol’jin hatte genug.
Als er von dem Unfall bei Klingenhügel hörte, hatte er darin ein Zeichen gesehen. Der Troll würde nicht riskieren, dass seinen Leuten noch mehr solcher Unfälle zustießen. Er hatte Thrall gemocht und ihm vertraut, und als der Orc ihn gebeten hatte, bei der Horde zu bleiben, hatte er sich dazu bereit erklärt. Natürlich hatte bei seiner Entscheidung auch Vorsicht eine Rolle gespielt, andernfalls hätte er Garrosh wohl kaum weiterhin die Treue gehalten, als der Kriegshäuptling ihn beleidigte und sein Volk zwang, in den ärmlichsten Vierteln zu hausen. Inzwischen lebten die Trolle auf den Echoinseln, aber auch dort waren sie Orgrimmar noch zu nahe, um sich wirklich sicher fühlen zu können.
Doch vielleicht war nun die Zeit gekommen, sich zurückzuziehen, oder sich zumindest einen entsprechenden Plan zurechtzulegen. Die Gelegenheit war günstig. Garrosh und die loyalen Mitglieder der Horde – also diejenigen, die in den Tavernen in der Hauptstadt feierten und nicht in Klingenhügel – waren noch immer damit beschäftigt, auf ihre abscheulichen Taten anzustoßen. Die Kor’kron, oder zumindest dieser Abschaum Malkorok, der sie führte, hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass er vom endgültigen Sieg seines Kriegshäuptlings überzeugt war. Darum schreckte er auch nicht davor zurück, Hordemitglieder zu töten, wenn sie es wagten, im Geheimen oder in der Öffentlichkeit schlecht über Garrosh zu sprechen.
Unter Thralls Herrschaft war die Horde gut zu den Trollen gewesen, aber jetzt – Vol’jin hatte viele gute Krieger während der letzten beiden Schlachten verloren, und das sollte sein Lohn sein? Nein, danke! Es war Zeit, nach Hause zu gehen, zumindest vorläufig, denn schließlich lag dieses Zuhause direkt unter Garroshs Nase. Zeit auch, intensiv zu meditieren und herauszufinden, was die Loa zu sagen hatten. Er erinnerte sich noch an die Worte, die er vor einer Weile an Garrosh gerichtet hatte: dass der Orc den Großteil seiner Herrschaft damit verbringen würde, über die Schulter zu blicken – und dass er während seiner letzten Atemzüge genau wissen würde, wer ihn getötet hatte.
Es schien, als wäre seine Entscheidung, sich zurückzuziehen, die richtige gewesen. Noch bevor er die Echoinseln erreichte, kam ihm ein Kanu entgegen. Der Schamane in dem Boot hatte die Arme erhoben, während sich die Wellen unter dem Rumpf schneller bewegten, als es eigentlich der Fall sein sollte; er benutzte die Elemente, um so schnell wie möglich zu seinem Anführer zu gelangen.
Vol’jin wartete gar nicht erst, bis das Kanu neben seinem Boot zum Stehen kam. Er bat die Loa, seine Stimme zu verstärken und rief dann: „Was is’, mein Freund? Was is’ gescheh’n?“
Der Schamane antwortete, und der unruhige Wind trug seine Stimme an Vol’jins lange Ohren heran. „Die Allianz! Sie is’ unterwegs hierher! Mit einer riesig’n Streitmacht!“
Garrosh brüllte vor Zorn und schleuderte seinen Krug quer über den Tisch. „Die Allianz? Hier? Unsere Spione sagten doch, sie würden sich an der Düsterküste sammeln!“
Der bemitleidenswerte Troll, dessen Aufgabe es war, dem Kriegshäuptling Meldung zu machen, zuckte ein wenig zusammen, obwohl der Krug nicht in seine Richtung geflogen war. „Davon weiß ich nix, Kriegshäuptling. Ich weiß nur, sie nähern sich der Messerfaust-Küste mit Dutzend’n von Schiff’n. Was soll’n wir tun?“
Schnell hatte sich Garrosh wieder von seinem Wutausbruch erholt. „Sag Baine, er soll Druiden in jeden Hafen schicken, den wir besetzt halten! Unsere Flotte muss sofort verstärkt werden. Die Truppen an der Nordwacht sollen herkommen. Bis zum letzten Schiff! Und so schnell wie möglich!“
Sehr zur Verwirrung des Trollboten verzerrte nach diesen Worten ein durchtriebenes Lächeln das Gesicht des Kriegshäuptlings. „Und die Magier … schick auch sie alle zu mir. Mein Plan war zwar für die Dunkelküste gedacht, aber an der Messerfaust-Küste wird er ebenso gut aufgehen.“
Varian stand an Deck der Wellenlöwe, als sie sich Kalimdor näherten. Die Draeneischamanen hatten ganze Arbeit geleistet und den Wind und die Wogen überzeugt, ihnen zu helfen, sodass die Flotte den Ozean in Rekordzeit überquert hatte, begünstigt von treibenden Winden und ruhigem Seegang. Nun waren sie nur noch ein paar Kilometer von der Messerfaust-Küste entfernt. Varian war zwar der Anführer der Allianztruppen, aber nicht der Kapitän der Wellenlöwe, darum hielt er sich im Hintergrund und ließ Telda Steinfaust ihre Arbeit machen. Das fiel ihm nicht weiter schwer, denn Telda wusste, was sie zu tun hatte, und trotz ihrer kleinen Statur hastete ein jeder Seemann auf seinen Posten, wenn sie einen Befehl bellte.
Als Varian nun neben sie trat und der Wind ihr Haar mit Gischt besprenkelte, reichte sie ihm ein Fernrohr. „Hier, der erste Blick auf die Bucht“, sagte sie.
Varian hob das Gerät vor sein rechtes Auge. Im Hafen lag nur ein einziges Schiff, dennoch wusste er, dass der Weg ins Herz von Orgrimmar schwer bewacht sein würde. „Sieht aus, als wäre dieses Schiff im Hafen von der Bauart, die man von den Goblins kennt.“
„Was bedeutet, dass ein gut gezielter Schuss reich’n sollte, das Ding in die Luft zu jag’n“, kommentierte Telda mit einem Grinsen.
Varian spürte ein leichtes Unbehagen. Seine Sinne – und zwar alle, nicht nur die herkömmlichen fünf – waren übernatürlich scharf, eine Gabe, die er sich aus seiner Zeit als Lo’Gosh erhalten hatte. Er hielt das Gesicht in den munter wehenden Wind und zog die Nase hoch, dann hob er das Fernrohr wieder ans Auge. Alles, was er sehen konnte, waren Himmel und Meer, die verschiedenen Töne von Blau.
Langsam drehte er sich im Kreis. Blaue See, blauer Himmel …
Doch dann erspähte er etwas, das nicht blau war, einen kleinen Fleck am Horizont.
„Da“, rief er und deutete nach Süden. „Schiffe!“
Irgendwie hatte Garrosh ihren Zug vorhergesehen.
„Alle Mann auf Gefechtsstation!“, brüllte Telda, deren Stimme eigentlich viel zu laut für einen so kleinen Körper war. Ringsum erwachte das Deck zu hektischer Tätigkeit. Die gut ausgebildeten Seemänner eilten zu den Kanonen, während Magier die Wanten hinaufkletterten, damit sie ihre Feuerbälle – die bei diesen hölzernen Segelschiffen so schreckliche Schäden anrichteten – zielgenauer und sicherer abfeuern konnten. Die Schamanen hasteten derweil zu den Seiten des Schiffes, obwohl sie dort ein leichtes Ziel waren; indem sie ihre Opferbereitschaft zeigten, wollten sie die Elemente um ihre Unterstützung bitten.