Ja, geht nur heim, dachte sie.
Anschließend wandte sie sich dem Ozean zu. Die salzige Brise zerzauste Jainas weißes Haar, während sie sich konzentrierte und die Hände auf die Fokussierende Iris legte. Falls sie die Wirkungsweise des Artefakts richtig verstanden hatte, war es im Grunde ein Leiter – und in den richtigen Händen auch ein Verstärker – arkaner Energie. Unter ihren Fingern spürte sie ein kaltes Prickeln, dann zog sich plötzlich ein dünner Riss über die Oberfläche der Kugel. Wie ein riesiges Auge begann sie sich zu öffnen.
Jaina keuchte, brach den Kontakt aber nicht ab. Solange sie den Fluss der Magie kontrollierte, würde ihr das Artefakt gehorchen. Es gab einen blendend grellen Blitz, und dann fuhr ein Lichtstrahl von der Fokussierenden Iris ins Meer.
Eine Hand noch immer auf der Kugel, hob Jaina den anderen Arm und beschrieb damit die inzwischen vertrauten Bewegungen eines ganz bestimmten Zaubers.
Bei ihrem ersten Versuch hatte dieser Spruch ein einziges Elementarwesen herbeibeschworen, doch nun sah sie plötzlich gleich zehn vor sich. Zehn schimmernde, versklavte Wasserwesen, die auf den Wellen standen, ihre Augen funkelten, die Extremitäten, die ihnen als Arme dienten, waren mit Ketten gebunden.
Jaina lachte. Anschließend erschuf sie noch mehr Elementare und dann noch mehr, bis zwischen ihren Körpern kaum noch das Meer zu sehen war. Normalerweise wäre sie nicht zu so vielen Beschwörungen in der Lage gewesen, und selbst falls doch, so hätte sie jetzt vor Erschöpfung am ganzen Leib gezittert. Doch die Fokussierende Iris erledigte nun die ganze Arbeit für sie, und Jaina fühlte sich noch immer genauso kräftig wie zu Beginn des Zaubers. Sie erkannte jetzt, warum die Horde das Artefakt gestohlen hatte, ebenso wie sie verstand, warum Kalec so besorgt gewesen war.
Einen kurzen Augenblick lang – als das Bild des blauen Drachen, wunderschön und anmutig in jeder Gestalt, vor ihrem inneren Auge auftauchte – schweiften ihre Gedanken ab. Sie erinnerte sich an seine Güte, sein Lachen, und auch daran, wie ihr Herz schneller geschlagen hatte, als er ihre Hand küsste.
Doch dann war dieser Moment vorbei, und Jaina richtete ihre Aufmerksamkeit grimmig auf die Elementarwesen. In ihrer Welt gab es keinen Platz mehr für Güte oder Lachen. Nicht, solange auch nur ein einziger Orc noch atmete.
Ein paar Elementare hatten während ihrer kurzen Unachtsamkeit an Kontur verloren, doch es kostete sie kaum mehr als einen Gedanken und ein Fingerschnippen, um sie jeweils wieder in die Gestalt zurückzubringen. Nun war es Zeit, sie zu vereinen.
Jaina hatte keinen Zauber dafür, und soweit sie wusste, gab es auch keinen. Doch die Fokussierende Iris scherte sich nicht um derartige Lächerlichkeiten. Jaina musste sich nur auf ihre Absichten konzentrieren, und ihre Finger bewegten sich in Gesten, die ihr wie intuitiv in den Sinn kamen.
Einen Moment später gehorchte die Iris – und mit ihr die Menge der Elementarwesen.
Sie begannen miteinander zu verschmelzen, Tausende von ihnen, ohne dabei aber wirklich ihre Gestalt zu verlieren. Stattdessen wurden sie einfach zu Teilen eines einzigen, größeren Umrisses. Jaina lächelte, und ihr Herz raste, als sie das erfolgreiche Ergebnis ihres Zaubers betrachtete, dann ließ sie die Elementare noch enger zusammenwachsen. Wo gerade noch Tausende einzelner Wesen auf den Wellen getanzt hatten, ragte nun eine titanische Woge auf.
Eine Monsterwelle.
Noch höher wurde sie und noch breiter, als die Lady von Theramore ihre Hand nach oben ausstreckte. Die Augen und verzauberten Fesseln an den Armen der Elementarwesen waren in dem titanischen Wall aus Wasser noch immer deutlich zu erkennen, doch sie würden sich nicht teilen. Nicht, solange Jaina ihnen befahclass="underline" Bleibt zusammen!
Sie ließ sich Zeit. Es war ein weiter Weg vom Prügeleiland bis zum Ziel der Flutwelle, und falls ihr Plan Erfolg haben sollte, würde sie noch mehr Elementarwesen benötigen und sie alle unter völliger Kontrolle halten müssen. Einige Minuten später hatte sie schließlich das Gefühl, fast bereit zu sein. Die Welle musste nur noch vier oder fünf Meter höher werden, und dann …
„Jaina!“, rief eine Stimme, tief und voll und zu gleichen Teilen von Freude und Schmerz erfüllt.
Die Welle erbebte, als Jaina sich umdrehte, ihre Hand nach wie vor auf der Fokussierenden Iris.
„Thrall!“, entfuhr es ihr. Ganz bewusst benutzte sie seinen echten Namen nicht. „Was tust du hier?!“
Die Wiedersehensfreude schwand aus seinem Gesicht. „Ich bin ja so froh, dass du lebst, meine alte Freundin. Aber ich wurde hierhergerufen … um dich aufzuhalten.“
Alte Freundin nannte er sie. Und warum auch nicht? Das waren sie doch schließlich, oder? Alte Freunde, die zusammengearbeitet hatten, um Kriege zu verhindern, um die Leben von Unschuldigen zu retten, sowohl in der Allianz als auch innerhalb der Horde.
Doch nun konnten sie keine Freunde mehr sein.
Der Schicksalshammer blieb, wo er war, auf den Rücken des Orcs geschnallt, der auf sie zuging, die Hände beschwörend ausgestreckt. „Ich hatte eine Vision – von einer Monsterwelle, die über Orgrimmar hinwegfegt. Und diese Insel war ihr Ausgangspunkt. Die Elemente haben mich gebeten hierherzukommen, und nun bin ich da, um dieses Grauen zu verhindern. Doch nicht in meinen schönsten Träumen und schlimmsten Albträumen hätte ich erwartet, dich hier vorzufinden. Am Leben – aber als Auslöserin dieser schrecklichen Katastrophe. Bitte, Jaina, lass sie frei! Lass sie gehen!“
„Das kann ich nicht“, sagte sie mit brüchiger Stimme. „Ich muss es tun, Thrall.“
„Ich habe gehört, was in Theramore geschah“, erklärte er, wobei er sich nach wie vor langsam auf sie zuschob. „Ich trauere mit dir um all die Seelen, die auf so brutale Weise aus dem Leben gerissen wurden. Aber Orgrimmar zuzufügen, was die Horde Theramore zugefügt hat, das wird keinen von ihnen zurückbringen, Jaina. Alles, was du damit erreichen wirst, ist, noch mehr Unschuldige zu töten.“
„Du trauerst?“, schnappte sie. „Aber was in Theramore geschehen ist, ist deine Schuld, Thrall! Du hast Garrosh das Kommando über die Horde überlassen! Und ich habe dich noch angefleht, zurückzukommen und ihn vom Thron zu verscheuchen. Ich wusste, dass er früher oder später etwas Grausames tun würde, und er hat mich nicht enttäuscht. Im Gegensatz zu dir. Ja, es war Garrosh, der Theramore vernichtet hat – aber du hast ihm die Macht gegeben, es zu tun!“
Thrall erstarrte mitten in der Bewegung, schockiert von diesen Worten.
„Dann – gib mir die Schuld, Jaina! Die Vorfahren wissen, ich tue es selbst. Aber versuche nicht, die Toten von Theramore zu rächen, indem du meine Leute vernichtest!“
„Leute?“, echote Jaina. „Ich kann sie nicht einmal mehr so nennen. Das sind keine Leute. Es sind Monster. Und du bist eines von ihnen! Mein Vater hatte recht – aber erst musste eine ganze Stadt voller Unschuldiger zerstört werden, bevor ich es erkannte. Ich habe nicht gesehen, wie die Orcs … sind, weil du mich geblendet hattest. Du hast mir vorgegaukelt, es könnte einen Frieden geben und dass die Orcs mehr seien als nur blutrünstige Tiere. Aber du hast gelogen. Das ist Krieg, Thrall, und Krieg bedeutet immer Leid. Krieg ist hässlich. Aber ihr habt ihn begonnen! Deine Horde hat Theramore dem Erdboden gleichgemacht, und jetzt hat sie eine Blockade um alle Allianzstädte auf Kalimdor errichtet. Zahllose Unschuldige werden belagert und versklavt und angegriffen. Aber – noch während wir hier stehen, führt Varian einen Angriff, um diese Blockade zu durchbrechen, und sobald meine Aufgabe erledigt ist, werde ich ihm helfen. Dann werden wir ja sehen, wer wen versklavt! Zunächst aber werde ich die Stadt zerstören, die nach Orgrim Schicksalshammer benannt wurde, und mit ihr das ganze Land, dem dein Vater seinen Namen gegeben hat!“