„Jaina! Nein, bitte, nicht!“
Mit einem Lächeln und einer einfachen Handbewegung entsandte Jaina die Sturmwelle.
Die gequälten Schreie Hunderter versklavter Elementarwesen zerrissen die Luft, während die Mauer aus Wasser nach Norden stürzte.
„Nein!“, brüllte Thrall. Verzweifelt riss er die Arme vor, und im Stillen betete er: Geist der Luft, halte sie auf! Lass nicht zu, dass sie zum Instrument all dieser Morde werden.
Er griff in seine Tasche und berührte die kleinen Schnitzereien, die die Elemente repräsentierten. Ihre Essenzen manifestierten sich als glühende, pulsierende Abbilder dieser Figuren zu seinen Füßen, während die Luft seinem Ruf bereitwillig folgte und der brodelnden Flutwelle einen heftigen Wind entgegenschleuderte, um sie aufzuhalten.
Jaina knurrte und bewegte die Hände. Die Elementarwesen heulten vor Pein, als sie gezwungen wurden, gegen die Fesseln des Windes zu kämpfen, und Thrall grunzte, zitternd vor Anstrengung; Jaina war eine mächtige Magierin, aber eigentlich hätte sie nicht stark genug sein dürfen, um ihm zu trotzen – zumal ihr die Elemente, die sie einsetzte, nicht willentlich folgten. Thrall hatte die Fokussierende Iris noch nie zuvor gesehen, aber er wusste doch, wie sie aussah. Einst hatte sie die mächtigen Sognadeln gesteuert, die die arkane Energie von Azeroths Leylinien zum Nexus umgelenkt hatten; außerdem hatte sie dem fünfköpfigen chromatischen Drachen das Leben geschenkt. Nun stand sie unter der Kontrolle einer meisterhaften Magierin.
Voller Unbehagen wurde ihm klar, dass sein Gedankengang einen Fehler aufwies: Das Wunder lag nicht darin, dass Jaina inzwischen stärker war als er. Das Wunder war vielmehr, dass er ihr überhaupt etwas entgegensetzen konnte.
„Jaina“, stieß er hervor, die Zähne vor Anstrengung zusammengebissen, „dein Schmerz ist gerechtfertigt. Was geschehen ist, war eine Abscheulichkeit. Doch es ist nicht richtig, unschuldigen Kindern den Atem zu rauben, um Rache an Garrosh zu nehmen!“
Ihr weißes Haupt mit der einen goldenen Strähne ruckte zu ihm herum, und ihre unheimlichen Augen starrten ihn eisig an, dann spreizte sie plötzlich die Finger und streckte ihm die Hand entgegen. Etwas Lavendelweißes, Glühendes traf Thrall mit einer unglaublichen Wucht und schleuderte ihn nach hinten. Kurz wurde die Welt um ihn herum grau, und er fand sich auf dem Rücken liegend im Sand wieder, nach Atem ringend. Sein ganzer Körper bebte, doch er zwang sich, wieder aufzustehen und seine Energie zu konzentrieren, um die Sturmwelle zurückzuhalten.
Jaina hatte ihn nicht angegriffen, damit er die Kontrolle über die Elemente verlor, das wusste er. Sie hatte ihn angegriffen, um ihn zu töten. Doch er konnte es nicht über sich bringen, dasselbe zu tun, zumindest noch nicht. Jaina war ihm eine treue Freundin gewesen, und vielleicht war sie es noch immer. Diese Gefühle behinderten ihn und verliehen Jaina einen Vorteil, wurde sie von derartigen Gefühlen doch augenscheinlich nicht zurückgehalten.
Einmal mehr bat der Orc die Winde um Hilfe. Eine Bö, stark wie ein Wirbelsturm, heulte Jaina entgegen, so heftig, dass sie nach hinten taumelte und rücklings in den Sand fiel. Dabei rutschte ihre Hand von der Fokussierenden Iris, und der jaulende Wind riss ihr die befehlenden Worte von den Lippen.
Thrall nutzte diese wertvollen Sekunden, um der hoch aufragenden Wand aus Wasser seine ganze Aufmerksamkeit zu widmen. Geist des Wassers, kämpfe gegen diesen Zauber, der dich versklavt! Nimm meine Stärke; nutze sie …
Er hörte und spürte, wie sich die Hitze hinter ihm zusammenballte, und obwohl er es zutiefst bedauerte, musste er seine Sinne nun vom Geist des Wassers abwenden und sich auf den Geist des Feuers konzentrieren. Thrall wirbelte herum, die Hände erhoben, um sich vor dem gewaltigen Flammenball zu schützen, der auf ihn zuraste. Der Geist des Feuers war in seiner Pein in einen rasenden Zorn verfallen, und eine Sekunde lang fürchtete der Orc, dass seine Stimme nicht mehr rechtzeitig gehört werden würde. Um sich zu verteidigen schleuderte er drei der Kugeln aus Wasser, die um ihn herumkreisten, in die Höhe. Doch obwohl sie ihm neue Kraft schenkten, schloss er die Augen und wappnete sich gegen die versengende Hitze und den Schmerz, die gemeinsam in der Gestalt des Feuerballs auf ihn zukamen. Erst im letzten Moment brach die Flammenkugel auseinander, und ihre Teile wirbelten in alle Richtungen davon. Nur ein paar von ihnen trafen den Schamanen, aber das war schon genug, um seine Roben zu versengen und sein Fleisch mit quälenden Brandblasen zu überziehen.
„Ich werde nicht zulassen, dass du mich aufhältst!“, schrie Jaina. Sie hatte sich auf Hände und Knie hochgekämpft und kroch nun auf die Fokussierende Iris zu. Bevor Thrall reagieren oder die ächzenden, sich windenden Elementare befreien konnte, die die Flutwelle bildeten, legte die Magierin die Hand auf das Artefakt und verlieh ihrem Zauber dadurch neue Kraft. Anschließend krümmte sie die Finger ihrer freien Hand zu einem arkanen Befehl. Verblüfft sah Thrall zu, wie die beiden verbliebenen Kugeln aus Wasser aus dem schützenden Ring um seinen Körper fortgerissen wurden. Sie vergrößerten sich, und noch während sich magische Fesseln um sie legten, wuchsen ihnen Arme. Dann schwebten sie zu ihren Brüdern hinüber – damit dienten sie nun Jaina. Der Orc erkannte, dass das Artefakt ihren Zaubern nicht nur zusätzliche Energie verlieh – durch die Fokussierende Iris hatte sie auch Kontrolle über seine Zauber.
„Siehst du, Thrall? Begreifst du jetzt, womit du es hier zu tun hast?“
„Ich sehe es, Jaina!“, rief er zurück, dann verstärkte er seine Totems und konzentrierte sich erneut darauf, die Flutwelle zurückzuhalten. Wenn seine Worte doch nur bis zu ihr durchdringen würden … „Ich sehe, dass du gebrochen bist und trauerst. Ich sehe auch, dass du im Begriff stehst, ein weiteres Opfer von Garroshs Angriff auf Theramore zu werden. Aber ich kann dir helfen!“
„Mir helfen? Wohl eher Garrosh! Woher soll ich denn wissen, dass du nicht für ihn arbeitest? Vielleicht hast du von Anfang an mit ihm unter einer Decke gesteckt!“
Diese Anschuldigung schockierte Thrall so sehr, dass sich sein Zauber abschwächte. Der gewaltige Berg aus schäumenden Wasserelementaren brauste mehrere Meter nach vorn, und Thrall konnte ihn nur dadurch noch aufhalten, dass er ihm seine ganze Willensstärke entgegenschleuderte.
Plötzlich erschien eine riesige Säule aus Feuer, die sich wie ein Wirbelwind über den Strand auf ihn zubewegte und dabei den Sand in die Luft peitschte. Thrall wusste, dass er diesen Zauber nicht so leicht auflösen konnte wie eben noch den Flammenball, außerdem hatte sich nun beinahe all seine Energie auf die monströse Welle gerichtet, die er zurückhalten wollte.
Die Welle …
Wasser, lass mich über dich schreiten, und schließe mich in deine Arme!
Er wirbelte herum und rannte vom Strand auf das Meer hinaus, als wäre es fester Boden. Seine Schritte trugen ihn geradewegs auf die riesige, alles überragende Woge zu, und er hoffte, dass er Jainas Zauber gegen sie einsetzten könnte, so, wie sie seine Magie gegen ihn verwandt hatte. Nun hatte er die bebende Wand der Elementare erreicht, und als er das Wasser bat, ihn zu halten, fiel er wie ein Stein in die Tiefen des Ozeans hinab. Über ihm donnerte die Feuersäule, die ihm Jaina hinterhergeschickt hatte, gegen die Sturmwelle.
Die Flammen erloschen schlagartig, und die Welle schwankte, deutlich geschwächt. Thrall tauchte tief hinab, fort von dem brodelnden Chaos an der Oberfläche, und näherte sich mit kräftigen Zügen wieder der Küste. Als er zwischen den Wellen auftauchte, sah er, dass Jaina nun hektisch versuchte, die Flutwelle wieder zu reparieren, indem sie weitere Elementare herbeirief und sie zwang, mit den anderen zu verschmelzen.
Der Orc bat den Geist des Lebens um einen letzten Gefallen und beschwor zwei Spektralwesen an seine Seite – Geisterwölfe, durchsichtig und nebelhaft, doch nicht minder gefährlich als ihre Verwandten aus Fleisch und Blut. Schon früher hatte er solche Manifestationen erschaffen, doch jetzt, da ihm der Geist des Lebens ganz bewusst seine Kraft lieh, waren die Wölfe stärker als je zuvor. Mit einem Geheul, das die Luft erzittern ließ, sprangen die geisterhaften Raubtiere Jaina an und lenkten sie von ihrer grimmigen Beschwörung ab.