„Ich sehe die Neuigkeiten von der Nordwacht selbst“, schnappte Garrosh und deutete auf die blau-weiße Standarte in der Ferne.
Der Taure sprach dennoch weiter. „Es gibt noch andere Neuigkeiten, von aufmerksamen Ohren vernommen.“ Garrosh gab sich sichtlich Mühe, seinen Zorn unter Kontrolle zu bringen, dann winkte er dem Boten ungeduldig zu, er möge fortfahren. „Varian plant, mit seiner Flotte loszusegeln, um die Blockade zu durchbrechen. Die Allianz hat noch immer genügend Schiffe, um eine Bedrohung für unsere besetzten Hafenstädte darzustellen. Mehrere Quellen stimmen darin überein, dass dies Varians Absicht ist.“
Garrosh sprang von seinem Terrorwolf, der darauf einen Schritt nach hinten machte, die Ohren flach an den Schädel gelegt. Dann packte der Orc den Fernläufer am Arm. „Welche Quellen sind das?“, fragte er.
„Garrosh“, warf Baine ein, seine Stimme gleich einer grollenden Warnung. „Lasst meinen Fernläufer los! Er wird Euch besser Bericht erstatten können, wenn er nicht fürchten muss, getötet zu werden, allein aus dem Grund, dass er Euch die Wahrheit überbringt.“
Der Blick, den Garrosh dem Tauren daraufhin zuwarf, hätte jede Rüstung durchbohrt. Aber dann erkannte der Kriegshäuptling, dass Baine recht hatte, und nahm seine Hand vom Arm des Boten. „Also, welche Quellen sind es?“, wiederholte er.
„Druiden, die von der Messerfaust-Küste herbeigeflogen sind, melden, dass die Flotte der Allianz Vorbereitungen trifft, um unsere Blockade anzugreifen.“
Einen Moment lang empfand Baine beinahe Mitleid mit Garrosh, denn es war deutlich sichtbar, wie sich sein Zorn in Pein verwandelte, und kurz sackte der Kriegshäuptling der Horde in sich zusammen, als wäre sämtliche Lebensenergie und Leidenschaft ganz plötzlich aus seinem Körper gewichen. Schließlich brummte er, an Malkorok gewandt: „Befiehl einen vollständigen Rückzug! In der gegenwärtigen Lage können wir einen Krieg an mehreren Fronten nicht riskieren.“
Malkorok bemühte sich um einen nüchternen Gesichtsausdruck, als er antwortete. „Wie mein Kriegshäuptling befiehlt.“ Anschließend rammte er seinem Terrorwolf die Fersen in die Flanken und eilte zu einigen anderen Kor’kron hinüber, um die Order an sie weiterzuleiten. Mehrere Orcs blickten über die Schulter zu Garrosh hinüber, als sie die Neuigkeiten hörten.
„Ich danke dir für deine Nachricht“, sagte Baine zu seinem Fernläufer. „Geh jetzt und stärke dich, und lass deine Wunden verbinden!“ Der andere Taure verbeugte sich erleichtert und stapfte davon, um zu tun, wie ihm geheißen. Nun wandte sich Baine an Garrosh. „Ihr habt meine Bewunderung, Kriegshäuptling.“
Der Orc blickte ihn mit schräg gelegtem Kopf an. „Warum dies?“
„Weil Ihr erkannt habt, dass es sinnlos ist, diesen Pfad weiterzuverfolgen. Der Krieg war von Anfang an eine schlechte Idee, und es freut mich zu sehen, dass Ihr ihm abgeschworen habt und …“
„Ich habe überhaupt nichts ‚abgeschworen‘, Taure, und ich rate dir, deine Zunge zu hüten“, knurrte Garrosh drohend. „Für jemanden mit so langen Ohren verstehst du viel zu oft falsch, was du hörst. Ich habe keineswegs vor, diesen Krieg zu beenden. Nein, ich werde ihn sogar ausweiten. Dieser Rückzug ist eine Neuformierung meiner Truppen, ein strategischer Neuanfang – aber keinesfalls eine Kapitulation vor der Macht der Allianz!“
Baine versuchte, seine Enttäuschung zu verbergen, und neben ihm bemühte sich Vol’jin ebenfalls um eine ausdruckslose Miene.
„Wir müssen unsere Anstrengungen verdoppeln“, erklärte Garrosh, und während er sprach, wandte er sich von Baine ab und stolzierte auf und ab, die Hände abwechselnd gespreizt und zu Fäusten geballt. Malkorok beendete seine Unterhaltung mit den Kor’kron, und nachdem er zu ihnen zurückgekehrt war, nahm er Haltung an und lauschte aufmerksam Garroshs Worten. „Mehr Schiffe. Mehr Waffen. Mehr Elementarwesen und Bestien und Dämonen, die unseren Befehlen gehorchen. Wir müssen einfach mehr Soldaten einziehen. Männer, Frauen, Kinder – sie können doch alle ihren Beitrag zum Ruhm der Horde leisten.“
Seine Laune verbesserte sich wieder, als seine Augen in die Ferne abschweiften und sich von der bitteren Niederlage der Gegenwart in die Zukunft richteten. „Ich habe meine Ziele zu kurz gesteckt – das war das Problem. Von jetzt an wird es nicht länger um die Eroberung von Kalimdor gehen. Nun ist das Ziel, die gesamte Allianz zu zermalmen! Diesen Abschaum vom Angesicht Azeroths zu tilgen! Wir werden Sturmwind bis auf die Grundmauern niederbrennen, und Wrynn soll in den Flammen verrecken! Dieser Krieg dreht sich nicht länger um die Kontrolle über einen Kontinent, sondern um die Eroberung der ganzen Welt. Wir können es schaffen – wir sind die Horde! Doch der Sieg wird nur dann unser sein, wenn unsere Pläne mit Bedacht geschmiedet sind, unser Wille eisern und unser Herz von Stärke und Hingabe erfüllt ist!“
„Garrosh Höllschrei“, erklärte Baine mit ruhiger Stimme. „Ich reite jetzt mit meinen Kriegern nach Mulgore. Ihre Zahl ist deutlich geschrumpft, seitdem ich mit ihnen von dort aufbrach, um dem Ruf meines Kriegshäuptlings zu folgen. Meine Loyalität der Horde gegenüber ist tief und aufrichtig, und das wird niemand infrage stellen. Doch lasst mich Euch dies eine sagen: Ich kämpfe für die wahre Horde, nicht für einen Anführer, der sich unnötiger und schändlicher Methoden bedient, um seine Schlachten zu schlagen. Es darf niemals ein zweites Theramore geben – nicht, wenn Ihr die Unterstützung von Baine Bluthuf wollt!“
Garrosh starrte ihn aus zusammengekniffenen Augen an, und dabei schmunzelte er auf eine Weise, die Baine nicht einordnen konnte. „Deine Worte wurden zur Kenntnis genommen“, sagte der Orc.
Während er die Zügel seines Kodo in die Hand nahm, warf Baine Vol’jin noch einen Blick zu. Der Troll musterte ihn traurig und schüttelte unmerklich den Kopf. Baine nickte kurz. Er verstand Vol’jins Beweggründe nur zu gut, waren es doch dieselben, die auch seine eigene Entscheidung diktierten – der Troll musste sein Volk vor dem Zorn eines erbosten Garrosh schützen.
Also würde es einen Weltkrieg geben.
Baine ritt nach Westen, nach Hause, der Idylle der rollenden Hügel in seinem geliebten Mulgore entgegen, und während der gesamten Reise fragte er sich, ob Garrosh nun machttrunken war … oder einfach nur wahnsinnig?
Wie viel Zeit, fragte sich Jaina, war wohl seit ihrem eigenen, persönlichen Kataklysmus vergangen. Sie hatte die Tage nicht gezählt, aber sicher waren es nicht viele gewesen; von zwei Wochen auszugehen, wäre vermutlich schon zu großzügig. Weniger als zwei Wochen also, seit sie sich darüber geärgert hatte, dass Thrall Garrosh nicht vom Thron entheben wollte, seit sie mit Kinndy köstliche Plätzchen gegessen hatte, seit ihre größte Sorge der Gedanke gewesen war, dass ihr Lehrling ihre Bücher mit Glasur verschmiert hatte.
Wie ein Schwert in der Esse war sie abgehärtet worden, gnadenlos und höchst wirksam – aus dem Feuer der Verzweiflung war sie in die Kälte von Hass und Rachegedanken getaucht worden und dann wieder zurück in die Flammen. Dabei war sie neu geformt, neu geschmiedet worden – um nun wie Stahl zu sein. Jetzt konnte sie so viel mehr ertragen. Sie würde nicht nachgeben, würde nicht zerbrechen, weder an der Trauer noch an dem Schmerz oder Zorn. Von nun an nicht mehr.
Diesmal erreichte sie Theramore nicht durch ein Portal und auch nicht allein, sondern auf dem breiten Rücken eines großen blauen Drachen. Kalecgos landete vor den Stadttoren, auf dem Strand, wo sie einst Hand in Hand einen Spaziergang gemacht und sich unterhalten hatten. Dann krümmte er sich zusammen, damit sie leichter auf den Boden hinabrutschen konnte.
Nachdem er wieder seine Halbelfengestalt angenommen hatte, trat er neben sie. „Jaina“, sagte er, „es ist noch nicht zu spät, deine Meinung zu ändern.“
Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Es ist schon in Ordnung, Kalec. Ich … ich muss es mir ansehen. Mit eigenen Augen. Jetzt, da sie klarer sind.“