Kalecs Stimme war ebenso wunderschön wie der Rest von ihm, und das Lied fand seinen Weg in ihre Seele und schenkte ihr Frieden. Sie spürte, wie er ihr die Lippen auf das weiße Haar drückte, einen liebevollen, zärtlichen Kuss, eine Geste des Trostes, für die er im Gegenzug nichts erwartete. Dennoch spürte Jaina, wie ihr Herz sich regte, selbst hier noch, an diesem so tragisch veränderten Ort. Eine gefühlte Ewigkeit hatte es kalt und hart in ihrer Brust gelegen, wie ein düsterer Diamant. Doch nun erwachte es wieder. Wie ein Same im Frühling war es vom kalten Eis des Winters erlöst, frei, Licht und Wärme entgegenzustreben.
Sicher und sanft in Kalecs Armen gewiegt, musste sie plötzlich an die letzte Unterhaltung denken, die sie und Thrall als Freunde geführt hatten.
Musstest du denn … geheilt werden?
Wir alle müssen geheilt werden, ob wir uns nun dessen bewusst sind oder nicht, hatte Thrall geantwortet. Selbst, wenn wir nie eine Wunde davontragen, hinterlässt das Leben doch Narben auf unserer Seele, allein dadurch, dass wir es leben. Ein Partner, der in dir das sieht, was du wirklich bist, wirklich und vollständig – ah, das ist ein Geschenk, Jaina Prachtmeer … Auf welchem Pfad du auch unterwegs bist, wohin immer er dich führen mag – ich für meinen Teil habe herausgefunden, dass diese Reise viel angenehmer ist, wenn man einen Lebensgefährten an seiner Seite hat.
Kalec hatte ihr dabei geholfen, sich zu heilen … und zwar nicht nur in Bezug auf die Wunden des einfachen Lebens. Er hatte sie in ihren besten und in ihren schlimmsten Augenblicken gesehen, hatte ihr den Weg zu ihrem wahren Selbst gewiesen, als sie in einem Labyrinth aus Verzweiflung und Zorn verloren gewesen war. Könnte er ihr Lebensgefährte sein, ebenso wie Aggra Thralls Lebensgefährtin war? Es schien unmöglich, diese Frage zu beantworten. Zurzeit gab es nur eine Sache, derer Jaina sich sicher war: Nichts war gewiss. Die Winde der Veränderung wehten, wie immer es ihnen beliebte.
Doch vorläufig war sie zufrieden. Sie legte den Kopf in den Nacken und sah zu ihm auf, und er erwiderte ihren Blick, während er die eine Strähne goldenen Haares streichelte, die ihr noch geblieben war.
„Rhonin“, sagte sie.
Kalec nickte. Als sie voneinander abließen, spürte Jaina einen kalten Wind zwischen ihnen hindurchstreichen, doch ihre Hand lag noch immer warm zwischen seinen Fingern. Langsam und bedächtig gingen sie auf den Krater zu, und sie schauderte, als sie an die letzten Momente im Leben des Erzmagiers denken musste – wie er sie durch das Portal geschoben hatte, während der Turm in sich zusammengefallen war, wie er zu violetter Asche geworden war, die der Wind inzwischen längst aufgewirbelt und in alle Ecken von Azeroth verteilt hatte.
„Sein Opfer war nicht umsonst“, erklärte Kalec, wie um sie daran zu erinnern. „Wäre die Wirkung der Bombe nicht zumindest ein wenig durch die Magie des Turmes eingeschränkt worden, hätte sie noch viel mehr Verwüstung angerichtet.“
„Er wollte Vereesa retten“, sagte Jaina. „Er wollte, dass sie überlebt … dass seine Kinder eine Mutter haben, auch wenn sie dafür ihren Vater verlieren mussten …“ Einen Moment lang versagte ihr die Stimme, dann fuhr sie fort: „Er kam hierher … weil ich ihn darum gebeten hatte.“ Sie wandte sich zu Kalecgos um. „Noch vor Kurzem habe ich mit aller Macht versucht, auf ein harmonisches Miteinander hinzuarbeiten. Ich fühlte mich auf verlorenem Posten, weil ich das Gefühl hatte, niemand wolle einen Frieden.“
„Willst du denn noch einen Frieden?“, fragte er.
Sie dachte einen Moment lang darüber nach, den Kopf auf die Seite geneigt, die Stirn in Falten. „Es ist nicht so, als ob ich ihn nicht länger wollte. Ich will schon Frieden. Ich bin nicht mehr so, wie ich vorher war – ich brenne nicht mehr darauf, Rache zu nehmen. Aber … ich bin auch nicht mehr die Frau, die so verzweifelt auf Harmonie zwischen Horde und Allianz gehofft hat. Es … es kann keine Harmonie geben, Kalec. Nicht, solange Garrosh die Horde anführt, und nicht nach dem, was er getan hat. Ich glaube nicht mehr, dass der Frieden die Antwort ist. Und das bedeutet … ich weiß nicht mehr, wo ich hingehöre.“
Er kräuselte seine Augenbraue. „Oh, ich denke, das weißt du durchaus!“
Sie warf ihm einen fragenden Blick zu, aber dann erkannte sie, dass er recht hatte.
Sie wollte nach Hause. Nach Hause, also zu einem Ort, der einst eine Zufluchtsstätte voller Freude und Gewissheit gewesen war, bevor sie ihn widerstrebend verlassen hatte, um dem Ruf ihres Schicksals zu folgen. Ihr fiel wieder ein, was Kalec gesagt hatte: dass alles einen Rhythmus und ein Muster hatte. Vielleicht hatte sich der Kreis für sie nun ja geschlossen.
„Dalaran“, sagte sie. „Die Kirin Tor. Vor langer Zeit habe ich ihre Lehren gewissenhaft studiert. Es fühlt sich richtig an, jetzt dorthin zurückzukehren, mehr als je zuvor.“ Ihr Blick wanderte erneut über die Trümmer ringsum. „Rhonin hielt das ebenfalls für meine Bestimmung. Nicht zuletzt darum wollte er, dass ich überlebe. Er sagte mir, dass ich in seinen Augen die Zukunft der Kirin Tor wäre. Also sollte ich ihnen zumindest meine Dienste anbieten und ihnen die Chance geben, mich höflich abzuweisen.“
„Du bist erstaunlich mächtig geworden, ganz ohne ihre Hilfe“, erklärte Kalec. „Ich glaube, sie könnten sich glücklich schätzen, dich in ihren Reihen zu haben – und vermutlich wissen sie das auch selbst. Rhonin war gewiss nicht der einzige Magier, der so gedacht hat.“
„Und was ist mit dir, Kalec?“ Innerlich bereitete sie sich schon darauf vor, dass er sagte, er werde sie verlassen und wieder zum Nexus zurückkehren. Schließlich war er der Anführer des blauen Drachenschwarmes. Dort, wo er lebte, gab es keinen Platz für ein Mitglied der jüngeren Rassen.
„Nun … falls du nichts dagegen hast … würde ich dich gerne nach Dalaran begleiten.“ Sie konnte ihre Freude nicht verbergen, und als er dies bemerkte, lächelte auch er, seine Augen voll Wärme und Zuneigung. „Ich hoffe, das heißt, du hast keine Einwände.“
„Nein, ich … ich würde mich sogar sehr freuen. Aber was wird dann aus den blauen Drachen?“
Sein Lächeln verblasste. „Der Schwarm hat sich aufgelöst“, erklärte er. „Wir sind jetzt nicht mehr aneinander gebunden. Ich finde, dass wir nach allem, was die Welt unter unserer unglücklichen Führung erdulden musste, Wiedergutmachung leisten sollten, auch und gerade gegenüber den Kirin Tor.“ Er schenkte ihr ein schiefes Grinsen. „Einmal haben sie bereits einen Drachen in ihre Reihen aufgenommen, auch wenn viele vielleicht nicht wussten, wer Krasus wirklich gewesen ist. Glaubst du, ich hätte eine Chance?“, fragte er, bevor er mit unsicherer Stimme anfügte: „Bei ihnen und … bei dir?“
Veränderung, dachte Jaina. Sie bringt den Schmerz, sie bringt die Freude, und sie ist unausweichlich. Wir sind unser eigener Phönix, der aus der Asche unseres alten Selbst aufsteigt, falls wir ihn nur lassen. Wir alle können wiedergeboren werden.
Sie trat einen Schritt nach vorn und streckte zur Antwort ihr Gesicht nach oben. Mit einer Zärtlichkeit, die sie nicht länger überraschte, und einer Innigkeit, die sie dafür umso mehr verblüffte, nahm Kalecgos vom blauen Drachenschwarm ihr Gesicht zwischen seine warmen Hände, und während seine Augen tief in die ihren blickten, beugte er sich vor und küsste Lady Jaina Prachtmeer … die Magierin.
Epilog
Als Jaina und Kalecgos Dalaran erreichten und um eine Audienz beim Rat der Kirin Tor baten, waren sie darauf vorbereitet, dass man sie fortschicken oder auf einen späteren Zeitpunkt vertrösten werde, doch stattdessen versicherte ihnen der Magier, der sie am Eingang begrüßte, dass der Rat sie empfangen wolle. Jetzt gleich. Ein paar Sekunden später fanden sich die beiden dann auch schon in der ewig erhabenen, sich stets verwandelnden Kammer der Luft wieder, und Kalec, der zum ersten Mal hier war, konnte nicht anders, als sich umzusehen und das Spektakel der Himmelsbilder zu bewundern.