„Der Rat heißt Kalecgos vom blauen Drachenschwarm und Lady Jaina Prachtmeer willkommen“, sagte Khadgar, seine Stimme war zwar altersschwer, aber doch voller Energie. „Die Welt hat sich verändert, seit wir Euch zum letzten Mal hier sahen, Lady. Warum seid Ihr und Euer Freund gerade an diesem Tage hier, um uns zu sprechen?“
„Aus vielerlei Gründen“, antwortete Jaina. „Zunächst einmal … schulde ich Euch allen eine Entschuldigung.“ Sie hielt das Buch hoch, das es ihr erlaubt hatte, die Fokussierende Iris in Anspruch zu nehmen. „Ich behielt dies ohne …“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Ich will es nicht schönreden. Ich habe es gestohlen, und ich habe das Siegel gebrochen, um eine schreckliche Waffe gegen meinen Feind einzusetzen.“
„Aber Ihr habt diese Waffe doch nicht verwendet?“, fragte Khadgar. „Denn sofern meine Quellen nicht jegliches Pflichtgefühl vergessen haben – und das würde ihnen kaum ähnlich sehen –, dann steht Orgrimmar noch, auch wenn sich Garrosh Höllschrei schmollend in die Feste Grommash zurückgezogen hat.“
„Ich habe sie nicht gegen Orgrimmar eingesetzt, das stimmt“, nickte Jaina. „Kalecgos hier und Thrall haben mich wieder zur Vernunft gebracht. Aber ich habe ein Artefakt benutzt, um die Flotte der Allianz zu verteidigen. Jetzt gebe ich Euch dieses Buch zurück, ebenso wie ich Kalecgos zuvor die Fokussierende Iris zurückgegeben habe.“
„Und ich“, fügte Kalec überraschenderweise hinzu, „würde dieses Artefakt gerne den Kirin Tor zum Geschenk machen.“
Gemurmel erhob sich in dem Raum. Selbst Jaina war verblüfft. „Kalec – die Iris gilt doch seit Urzeiten als Schatz des blauen Drachenschwarms.“
„Doch jetzt ist der Schwarm in alle Winde verstreut“, erklärte Kalec, „und es gibt niemanden mehr, der auf diesen Schatz aufpassen kann. Zu meiner großen Schande ist es uns nicht gelungen, ihn zu beschützen, und ich halte mich nicht länger für einen würdigen Wächter dieses Artefakts. Bitte – werdet Ihr die Fokussierende Iris annehmen? Ich weiß, es gibt zahlreiche wertvolle Artefakte in Dalaran. Ich könnte mir keinen sichereren Ort für die Iris vorstellen.“
Modera trat vor und nahm sowohl das gestohlene Buch als auch die miniaturisierte Iris entgegen, wobei sie eine Verbeugung vor dem Drachen andeutete. „Die Sorge um das Wohl anderer ist Euch wichtiger als Euer Selbst, Kalecgos. Das soll nicht vergessen werden.“
Karlain richtete sich zu seiner ganzen Größe auf und musterte Jaina mit vor der Brust verschränkten Armen. „Lady Jaina Prachtmeer“, sagte er. „Ihr seid doch nicht nur hierhergekommen, um das Buch zurückzugeben.“
„Nein“, bestätigte sie. „Ich bin … ich bitte ergebungsvoll darum, als Novizin in die Reihen der Kirin Tor aufgenommen zu werden.“
Nachdem sie Dalaran so viele Jahre ferngeblieben war, hätte dies die Ratsmitglieder eigentlich überraschen müssen, doch falls sie verwirrt waren, ließ sich zumindest keiner von ihnen etwas anmerken. Khadgar hob die Hand, woraufhin die anderen vier zu ihm traten. Kurz unterhielten sie sich leise flüsternd, und Jaina wandte sich höflich von ihnen ab, damit sie möglichst ungestört ihre Meinungen austauschen konnten. Kalec griff nach ihrer Hand.
„Ich würde dir ja gern sagen, du solltest dir keine Sorgen machen, aber das würde wohl nicht viel nützen“, sagte er.
Sie lächelte kurz, dann meinte sie: „Ich bin … nicht sicher, was ich tun werde, falls sie mich ablehnen. Obwohl ich in letzter Sekunde innegehalten habe, bevor ich Orgrimmar zerstören konnte – und ich bin froh, dass ich das getan habe –, glaube ich doch noch immer, dass Garrosh vom Thron des Kriegshäuptlings enthoben werden muss. Das ist nicht gerade eine … neutrale Einstellung.“
„Du bist eine fähige, kluge und großherzige Frau, Jaina“, entgegnete Kalec mit sanfter Stimme. „Für jemanden wie dich gibt es immer einen Platz.“
„Lady Prachtmeer?“
Es war Khadgar, der gerufen hatte, und Jaina wandte sich mit rasendem Herzen wieder zu ihm um. „Wir müssen Eure Bitte, diesem ehrenvollen Orden als Novizin beizutreten, leider ablehnen.“
Sie spürte den schmerzhaften Stachel der Enttäuschung, und er saß tiefer, als sie erwartet hatte. „Ich verstehe“, sagte sie leise. „Meine Taten sind unverzeihlich.“
Khadgar fuhr fort. „Aber sie können wiedergutgemacht werden. Und Ihr könntet ja wohl kaum eine Novizin der Kirin Tor sein, wenn wir in Euch gerne die Anführerin des Ordens sehen würden, nicht wahr?“
„Was?“ Das Wort platzte in einem überraschten Keuchen aus ihr heraus, wie man es dem Mädchen nachgesehen hatte, das sie einst gewesen war, nicht aber der Frau, die nun hier in der Kammer der Luft stand. „Aber ich – ich war doch …“ Ihre Stimme versagte, und eine Weile starrte sie Khadgar einfach nur stumm an.
„Rhonin hat sein Leben gegeben, um Euch zu retten, Jaina. Er sagte Euch, dass Ihr die Zukunft der Kirin Tor wäret.“
Sie nickte. „Aber das ergab keinen Sinn für mich. Ich war ja nicht einmal ein Mitglied des Ordens.“
„Für uns ergab es ebenso wenig Sinn, als er immer und immer wieder darauf beharrte“, warf Modera ein. „Aber Vereesa hat in seinem Schreibtisch eine Schatulle gefunden, die mehrere Schriftrollen enthielt. Auf ihnen hat kein Geringerer als Korialstrasz selbst seine Prophezeiungen niedergeschrieben.“
Jaina und Kalec blickten einander an. „Und … wurde ich in einer dieser Prophezeiungen erwähnt?“
„Nicht namentlich“, sagte Khadgar. Er zog eine Schriftrolle aus seiner Tasche und hielt sie Jaina hin. „Bitte, lest es selbst vor!“
Jaina nahm die Schriftrolle mit zitternden Händen entgegen und begann mit unsicherer Stimme zu rezitieren:
Tatsächlich, es passte. Auf Rhonin folgte Lady Jaina Prachtmeer, deren goldenes Haar sich in Silber verwandelt hatte. Ihre Augen hatten die Farbe von Saphiren, und eine Zeit lang hatten sie wie Diamanten geleuchtet. Sie war gequält gewesen und verbittert, ihr Reich war gefallen, und auf gewisse Weise hatte sie eine kriegerische Ansicht vertreten. Ungläubig blickte sie zu den Mitgliedern des Rates auf.
„Aber – mich nur auf der Grundlage dieser Prophezeiung auszuwählen …“
„Oh, das ist nicht alles“, meldete sich nun überraschenderweise Aethas Sonnenhäscher zu Wort. „Ihr seid immer stark gewesen, Mylady. Sowohl in Euren Fähigkeiten als auch in Eurem Willen. Selbst als Ihr in Versuchung geführt wurdet, und letzten Endes sogar, als ihr unter den Nachwirkungen der Manabombe littet, habt ihr einen gerechten Weg gewählt, anstatt dem dunklen Pfad der Rache zu folgen. Ihr müsst zugeben, es ist unwahrscheinlich, dass Euch jemals wieder etwas so auf die Probe stellen könnte wie der Untergang von Theramore. Und ich glaube, es gibt selbst in diesem Kreis niemanden, der unter den gegebenen Umständen besser gehandelt hätte. Um die Wahrheit zu sagen … wir hätten uns womöglich nicht halb so gut geschlagen.“
„Ihr versteht nicht“, entgegnete sie. „Ich brauchte Hilfe, um nicht zu … etwas Schrecklichem zu werden. Ohne Kalecgos hätte ich es nie geschafft.“