Navarro hatte zwar grundsätzlich recht, aber diese Leute übersahen die kurzfristigen Gefahren. Geary wusste, dass diese Entscheidung verkehrt war. Er wusste, wenn die Senatoren nicht handelten, dann war eine Katastrophe so gut wie unvermeidlich. Aber auf eigene Faust würden die drei nicht handeln.
Seit Rione ihn vor Monaten davon überzeugt hatte, dass er die Macht besaß, um sich über die zivile Führung der Allianz hinwegzusetzen, hatte er sich davor gefürchtet, einmal an diesem Punkt anzugelangen. Warum sollte er das überhaupt in Erwägung ziehen? Vor hundert Jahren wäre so etwas für ihn noch völlig undenkbar gewesen, aber nun sah er, wie ihm jede Alternative entrissen wurde, wie sich der Abgrund des Widerstands Stück für Stück näherte. Er wusste nicht, was ihn in dessen Tiefen erwartete, doch er konnte seinen Kurs so wenig ändern wie ein Raumschiff, das zu tief in das Schwerkraftfeld eines toten Sterns geraten war.
Wo stand seine Ehre? Was wäre das Beste für die Menschen, die ihm vertrauten, und für die Allianz? »Sir, ich muss noch einmal mit Nachdruck darauf hinweisen, dass die Flotte eine solche Vorgehensweise nicht tatenlos hinnehmen wird.«
»Das wird sie, wenn Admiral Geary es so fordert.«
»Weder bin ich davon überzeugt, dass das geschehen wird, Sir, noch gefällt es mir, ein solches Handeln gutzuheißen.«
»Das ist egal«, beharrte Navarro. »Sie haben Ihre Befehle, und die werden Sie ausführen.« Nach außen hin schien ihn Gearys Sturheit zu ärgern, aber je entschlossener sich der Senator gab, umso offensichtlicher wurde seine wachsende Unruhe. »Wir können uns nicht im Namen der Gerechtigkeit über Ihre Flottenvorschriften oder über das Gesetz hinwegsetzen.«
Es hörte sich richtig und nachvollziehbar an, aber die reale Situation wurde dabei völlig außer Acht gelassen. Allerdings war das rein rechtlich gesehen für ihn kein Grund, seine Befehle zu missachten.
Geary zählte im Geiste bis zehn, um sich zu sammeln. »Können wir uns über die aktuelle Situation außerhalb dieses Raums informieren, Sir? Sind Einspeisungen von Informationen erlaubt?« Er wusste, wie die Antwort darauf lauten sollte, aber inzwischen hatte er auch feststellen müssen, dass vieles nicht so war, wie man es erwartete.
Navarro legte die Stirn in Falten und sah nacheinander Sakai und Suva an. »Wir haben kein … Können wir einen kurzen Datenstrom in eine Richtung handhaben?«
»Selbst ein Mikroimpuls an eingehenden Informationen wird noch immer viel zu gefährlich sein«, entgegnete Suva, die Geary auf eine immer unnachgiebigere Art anschaute. »Ich wüsste auch nicht, welchem Zweck das dienen sollte.«
»Ich halte es für wichtig, dass wir wissen, was die Flotte in diesem Moment unternimmt«, betonte Geary. »Auch wenn ich den Befehl erteilt habe, dass jeder auf seiner Position bleiben soll.«
»Ich halte das für ratsam«, äußerte sich Sakai. »Aus meiner Erfahrung mit Admiral Geary weiß ich, dass wir zuhören sollten, wenn er meint, etwas sei wichtig für uns.«
»Black Jack …«, begann Suva.
»… ist kein Gott, und das weiß er auch«, fiel Sakai ihr ins Wort. »Er weiß, dass seine Fähigkeiten begrenzt sind, und wir sollten nicht davon ausgehen, dass alles unweigerlich so kommt, wie er es will.«
Navarro sah Geary lange an, dann wandte er sich an Sakai und tauschte mit ihm eine wortlose Nachricht aus. »Also gut. Laden Sie einen aktuellen Status und eine Zusammenstellung der letzten Übermittlungen herunter«, forderte er Suva auf, die mit finsterer Miene auf ihre Dateneinheit schaute und in rascher Folge Befehle eintippte.
Das Display flackerte, als die Daten auf den neuesten Stand gebracht wurden. Daneben wurde eine Liste mit den aktuellsten Übertragungen angezeigt, bis Augenblicke später das Bild wieder erstarrte, da die Sicherheitsbarrieren abermals aktiviert wurden. Alle Blicke richteten sich auf die Darstellung auf dem Display. Wo eben noch alle Kriegsschiffe ordentlich ihrem festen Orbit gefolgt waren, herrschte nun Durcheinander, da Dutzende von Schiffen ihre Position verlassen hatten und ihre Vektoren erkennen ließen, dass ihr Ziel die Station Ambaru war. Nicht nur Kreuzer und Zerstörer hatten diesen Kurs eingeschlagen, sondern auch Schlachtkreuzer sowie ein bedrohlicher Pulk aus Schlachtschiffen.
Geary konnte die Namen der Schiffe erkennen, die in Richtung der Station beschleunigt hatten. Die Illustrious. Es war klar gewesen, dass Captain Badaya in dieser Situation als Erster vorpreschen würde. Allerdings hatte Geary nicht damit gerechnet, dass Captain Parr mit der Incredible dicht dahinter sein würde. Auch die Implacable und die Intemperate folgten auf dem gleichen Kurs. Die neue Invincible hatte zwar ihre Position aufgegeben, beschleunigte dabei aber kaum, was aussah, als wollte sie den Eindruck erwecken, dass sie der Illustrious und der Incredible folgte, ohne dabei ihren Platz zu verlassen.
Ein echter Schock war aber der Anblick des Schlachtschiffs Dreadnaught, das ebenfalls nicht mehr auf der vorherigen Position zu finden war. Wieso hatte seine eigene Großnichte den Befehl ignoriert, sich nicht von der Stelle zu rühren und stattdessen zu warten? Jane Geary hatte sich als bodenständig und erfindungsreich zugleich erwiesen, um ihm wie eine zuverlässige Kommandantin vorzukommen. Aber auch die Dependable und die Conqueror hatten sich in Bewegung gesetzt. Das wiederum musste die Gallant, die Indomitable, die Glorious und die Magnificent dazu veranlasst haben, Kurs auf die Station Ambaru zu nehmen. Sieben gewaltige Schlachtschiffe, von denen jedes Einzelne genügend Feuerkraft besaß, um die Station in Trümmer zu schießen.
Überall in der Flotte hatten sich Schwere und Leichte Kreuzer sowie Zerstörer aufgemacht, um einzeln oder in Divisions- und Geschwaderstärke gegen die Raumstation vorzurücken.
Den Kontrast dazu bildeten die Schiffe, die ihre alte Position beibehalten hatten, an vorderster Front die Dauntless, dazu die Daring und die Victorious. Dann natürlich Captain Tulevs Schlachtkreuzerdivision, bestehend aus der Leviathan, der Dragon, der Steadfast und der Valiant. Auch Captain Duellos behielt mit der Inspire, der Brilliant und der Formidable die Position bei. Es überraschte Geary nicht, dass sich Captain Armus mit seiner Colossus nicht von der Stelle gerührt hatte. Armus war schlicht zu schwerfällig, um in einer plötzlich veränderten Situation zügig zu reagieren. Das konnte zwar unter bestimmten Umständen ein Problem darstellen, aber in diesem Fall war es ein Segen, schien doch das Verharren der Colossus und der restlichen Formation anderen Schlachtschiffen und Eskortschiffen als Vorbild für deren eigenes Verhalten zu dienen.
Die wohl größte Überraschung stellte die scheinbar verfluchte Orion dar, bei der man sich in der Vergangenheit immer darauf hatte verlassen können, dass sie genau das Gegenteil von dem tat, was ihr aufgetragen worden war: Dieses Mal hatte sie Gearys Befehl befolgt und sich nicht von der Stelle bewegt.
Überall auf den Planeten, Monden und Orbitaleinrichtungen im System wurde für die Verteidigungsstreitkräfte eine höhere Alarmstufe ausgerufen, außerdem wurden Schilde aktiviert und Waffensysteme hochgefahren. Bislang war aber noch keine Zielerfassungsautomatik auf die Schiffe der Flotte ausgerichtet worden.