Geary stützte das Kinn auf seine Hand und sah Charban an. »Warum sollten sie uns belügen und sagen, dass sie das eine wollen, während sie in Wahrheit etwas ganz anderes wünschen?«
Charban lächelte flüchtig. »Wenn Sie zu den Männern und Frauen sprechen, die in der Flotte dienen, reden Sie dann von Kosten-Nutzen-Relationen, von der Notwendigkeit, die Tantiemen der Aktionäre zu steigern oder die Regierungsausgaben zu verringern? Oder sagen Sie ihnen das, was Ihrer Ansicht nach für diese Leute wirklich zählt?«
Nachdem er kurz über diese Frage nachgedacht hatte, entgegnete Geary: »Sie glauben, die Enigmas haben uns bei Midway eine eigens entwickelte Erklärung für ihr Verhalten geliefert, von der sie dachten, wir würden sie verstehen oder akzeptieren?«
»Ja. Jeder außenstehende Agent, der den Krieg mitverfolgt hat, muss zwangsläufig erkannt haben, mit welcher Verbissenheit wir um die Kontrolle über Sternensysteme gekämpft haben. Um die Kontrolle über Territorium. Etwas zu besitzen, ist uns wichtig, auch wenn es für die meisten Menschen gar nicht das Allerwichtigste darstellt. Ich glaube, die Enigmas liefern uns seit Midway die eine Rechtfertigung für ihr Verhalten, von der sie glauben, dass wir sie für plausibel halten. Anstatt ihre wahren Gründe zu nennen, haben sie uns das erzählt, was wir ihrer Meinung nach hören wollten.«
Der General beugte sich vor und fuhr eindringlicher fort. »Bedenken Sie, wie verschlossen sie sind, wie sie nichts über sich enthüllt sehen wollen. Warum sollten sie uns bei Midway den wahren Grund für ihr Auftauchen nennen? Warum sollten sie uns sagen, was sie wirklich wollen?«
»Gute Frage.«
»Ich bin auf diese Überlegung gestoßen, als ich über die Menschen nachgedacht habe, die von der Enigma-Rasse festgehalten wurden«, redete er weiter. »Aus menschlicher Sicht war nichts daran überraschend, dass die Aliens mehr über uns erfahren wollen. Aber war das das wahre Motiv? Haben sie das Verhalten von Menschen nur erforschen wollen, weil sie neugierig sind, oder wollen sie mehr über uns wissen, weil sie uns als Bedrohung ansehen?«
Geary nickte bedächtig. »Aus menschlicher Sicht würde beides zutreffen, und selbst wenn klar wäre, dass keine Gefahr von einer anderen intelligenten Spezies ausgeht, würden wir mehr über sie erfahren wollen.«
»Weil wir neugierig sind.« Charban beugte sich noch etwas weiter vor. »Vor einiger Zeit gab es bei einer Konferenz diese Diskussion über die Besessenheit der Menschen, wenn es um Sex geht. Das ist tatsächlich ein wesentlicher Teil unseres Wesens. Und dann kämpfen wir natürlich noch um Eigentum und um andere Dinge. Aber es gibt noch eine andere Eigenschaft, die für uns Menschen typisch ist. Wir sind neugierig. Wir wollen immer mehr wissen. Was finden wir im nächsten Sternensystem? Wie funktioniert dies und jenes? Warum verhält sich das Universum so und nicht anders? Es ist egal, wie viel wir dazulernen, wir wollen immer noch mehr wissen. Wir stellen uns jeder Sache mit der Absicht, mehr über sie zu erfahren. Was ist aber die wesentliche Eigenschaft der Enigma-Rasse, die wir bislang bei ihr ausmachen konnten?«
»Die Besessenheit, nichts über sich zu verraten.« Geary atmete tief durch. »Wir wollen mehr wissen, und sie wollen nicht, dass jemand etwas über sie weiß. Materie und Antimaterie. Wir sind sozusagen ihr schlimmster Albtraum. Haben sie uns deshalb angegriffen?«
»Möglicherweise. Ich habe mir die Aufzeichnungen angesehen, die die Syndiks uns überlassen haben«, fuhr Charban fort. »Soweit ich das erkennen kann, haben sich die Syndiks der Enigma-Rasse nicht gerade unter dem Motto genähert: ›Wir werden euch in Ruhe lassen.‹ Sie haben das gemacht, was alle Menschen machen. Sie haben ihre Forschungsmissionen ins Gebiet der Enigmas geschickt, ohne etwas von deren Existenz zu ahnen. Sie errichteten Basen und Kolonien, sie breiteten sich immer tiefer in deren Gebiet aus. Als die Syndiks dann von den Aliens erfuhren, wollten sie mehr über sie herausfinden. Sie wollten mit ihnen reden, und möglicherweise haben sie auch deren Verteidigungsbereitschaft und -fähigkeit auf die Probe gestellt. Im Prinzip das Gleiche, was wir auch gemacht haben. Wir haben ihnen gesagt, wir wollen mit ihnen reden und sie kennenlernen – also genau das, was sie an uns überhaupt nicht mögen. Sehen Sie nur an, was wir getan haben. Wir sind auf einer Forschungsmission, um etwas über sie herauszufinden, aber was für uns ein ganz normaler Wunsch ist, stellt für die Enigma-Rasse einen aggressiven Akt dar.«
»Und wenn wir versprechen, sie in Ruhe zu lassen?«, fragte Geary. »Wenn wir sie völlig ignorieren? Wenn wir versuchen, nie wieder in ihr Territorium einzudringen? Wenn wir nichts mehr über sie herausfinden wollen, wenn wir nie wieder Kontakt mit ihnen aufnehmen?«
»Einen Versuch wäre es wert. Aber da sind noch zwei Punkte zu beachten. Zunächst müssen wir ihnen zu verstehen geben, dass unsere Neugier niemals gestillt wird, solange wir glauben, dass sie immer noch Menschen in ihrer Gewalt haben. Dann werden wir weiter nach ihnen suchen. Wenn sie wollen, dass wir so tun, als würde das Universum dort enden, wo ihr Territorium beginnt, müssen sie jeden Menschen freilassen, der noch bei ihnen festgehalten wird.«
»Hervorragende Idee«, fand Geary.
»Danke, aber ich sollte wohl besser erwähnen, dass meine Kollegin mir dabei behilflich war.« Charban hielt inne und verzog den Mund, als hätte er eben etwas unappetitlich Schmeckendes runtergeschluckt. »Der zweite Punkt: Die Enigmas haben sich entschlossen, militärische Optionen gegen uns einzusetzen. Ich halte es für möglich, dass sie auch weiter nach militärischen Lösungen suchen werden, bis wir ihnen gezeigt haben, dass sie so nicht siegen können.«
»Das funktioniert ja nicht mal bei allen Menschen. Es gibt genügend von der Art, auf die man einprügeln kann und die trotzdem gleich darauf wieder vor einem steht, um sich die nächste Abreibung abzuholen.«
»Ja, das ist eine unserer besonders irrationalen Verhaltensweisen, mit der Realität umzugehen. Aber das sind die Enigmas. Die treibende Kraft scheint bei ihnen nicht dem Überleben oder dem Siegen zu dienen, sondern der Wahrung ihrer Geheimnisse. Zeigen Sie ihnen, dass sie das mit militärischer Gewalt nicht erreichen werden, und es könnte sie zum Umdenken bewegen.«
Geary betrachtete das Display über dem Tisch in seinem Quartier und schaltete auf das letzte Bild des Sternensystems um, aus dem sie den Sprung in Richtung des vor ihnen liegenden Systems unternommen hatten. Es zeigte einhundertzehn Enigma-Kriegsschiffe, die die Allianz-Flotte verfolgten. »Es könnte sein, dass wir wieder kämpfen und möglichst viele von diesen Schiffen zerstören müssen.«
»Ja.« Charban nickte Geary zu. »Sie betrachten das so wie ich als eine traurige Notwendigkeit. Victoria sagte bereits, Sie würden so reagieren.«
»Hat Victoria Rione sonst noch etwas gesagt?«
Charban legte die Stirn in Falten. »Nein. Sie meinte nur, ich sollte mit Ihnen reden, Admiral. Ich weiß, ich bin weit davon entfernt, die am besten qualifizierte Person für diese Aufgabe zu sein. Ich frage mich manchmal, wieso sie mir überhaupt aufgetragen wurde und ob …«
»… und ob jemand will, dass wir scheitern?«
»So weit bin ich mit meinen Verdächtigungen nicht gegangen, Admiral. Einige von den Leuten, mit denen ich zusammengearbeitet habe, würden so etwas niemals machen.«
»Aber andere schon?« Er musste an Riones seltsame Warnung denken. Viele Gehirne, die alle versuchten, eine einzelne plumpe Hand zu bewegen.
»Vertrauen Sie meiner Kollegin, Admiral?«, fragte Charban ihn.
»Ja.« Aber mir sind schon früher Fehler unterlaufen. Ich will hoffen, das ist diesmal nicht der Fall. »Ich bin froh, dass Sie mir von dieser Idee erzählen, General. Mit den zivilen Experten können wir erst darüber reden, wenn wir den Sprungraum verlassen haben, aber nehmen Sie mit ihnen bitte sofort Kontakt auf, sobald wir das nächste System erreichen. Arbeiten Sie zusammen eine Möglichkeit aus, wie wir uns den Enigmas verständlich machen können.«