»Sie dürfen nicht vergessen, Admiral«, wandte sie ein, »dass so viele Schiffe gar nicht mehr übrig sind. Bevor Sie das Kommando übernahmen, hatten wir bereits einen Großteil beider Kontingente verloren. Weitere Schiffe wurden bei den anschließenden Kämpfen zerstört. Es geht nicht mehr darum, eine gewaltige Zahl an Besatzungsmitgliedern nach Hause zurückkehren zu lassen, sondern nur noch die Überlebenden. Gemessen an den Bevölkerungszahlen dieser Völker stellen die Überlebenden nur einen winzigen Bruchteil dar.«
Seine Wut schien verraucht zu sein, zurückgeblieben war eine dumpfe Hitze, die keine Wärme ausstrahlte. »So wie die Allianz-Flotte vor dem Krieg. Kaum jemand war zu der Zeit mit einem Angehörigen des Militärs verwandt.«
»Richtig, und damit wird auch die Logik klar. Diese beiden Regierungen wollen die von ihren Kriegsschiffen und den Besatzungen ausgehende Bedrohung so weit entfernt wie möglich wissen. Beklagen werden sich darüber nur wenige, weil auch nur wenige sich daran stören können, dass diese Männer und Frauen noch immer nicht nach Hause zurückkehren. Gleichzeitig kann man sich weiter damit brüsten, dass die Regierung auch künftig den großen Helden Black Jack unterstützt.«
»Ich werde nach wie vor benutzt«, stellte Geary fest.
»Ja, das werden Sie. Was werden Sie dagegen unternehmen?«
»Ich könnte den Dienst quittieren …«
Wieder kochten ihre Emotionen hoch. »Wer sonst sollte denn in der Lage sein, diese Leute am Leben zu erhalten, Admiral? Geben Sie auf, dann übernimmt irgendein Idiot wie Admiral Otropa Ihren Platz. Wollen Sie, dass sie alle sterben müssen?«
»Das ist einfach nur unfair!«
»Glauben Sie immer noch daran, irgendetwas könnte fair sein?«, fragte sie.
»So seltsam das auch sein mag, aber genau das tue ich.« Dennoch hatte Rione etwas Wahres gesagt. Diese Soldaten werden von ihren eigenen Leuten verstoßen, jemand muss sich um sie kümmern. Solange ich niemanden gefunden habe, der das kann, werde ich dieser Jemand sein müssen. »Ich werde meine Arbeit nach Kräften erledigen.«
»Sie werden also weiterhin Ihre Befehle befolgen?« Riones Stimme klang sanfter, zugleich aber auch eindringlicher.
»Ja.« Geary bleckte die Zähne. »Und zwar so, wie ich diese Befehle auslege. Das bedeutet, dass ich für die Leute unter meinem Kommando alles tun werde, was in meiner Macht steht.«
»Und die Aliens?«
»Sie haben Ihre Anweisungen, ich habe meine. Meine Befehle beschränken sich nicht darauf, kurzfristige Gefahren und Bedrohungen auszuräumen. Ich soll das Ganze auf eine Art und Weise lösen, die langfristig funktioniert. Wenn die Regierung oder einer ihrer Gesandten damit ein Problem hat, dann sollen sie sich einen anderen suchen, den sie zu ihrem Hampelmann machen können.«
Rione begann, schwach zu lächeln, was jedoch nichts daran änderte, dass sie immer noch müde und irgendwie viel älter wirkte. »Jeder unterschätzt Sie. Nur ich nicht.«
»Und Tanya.«
»Ja, aber sie betet Sie auch noch an, was ich nicht machen werde.« Rione stand auf. »Ich muss mich jetzt erst mal ein wenig ausruhen. Charban wird vor morgen nicht hier eintreffen. Also können Sie sich für eine Weile wieder von allen Politikern befreit fühlen.«
»Ich bin mir sicher, Ihr Quartier ist inzwischen fertig.« Er musterte sie und fragte sich, wieso sich bei ihm der beharrliche Eindruck hielt, dass mit Rione irgendetwas anders war als beim letzten Mal. »Ist alles in Ordnung?«
»Alles bestens«, sagte sie und lächelte abermals, was jetzt aber so emotionslos wirkte wie das Lächeln eines Syndik-CEOs. Ihre Augen verrieten ebenfalls keine Gefühlsregung.
Nachdem sie gegangen war, saß er noch eine Weile da und ließ sich die Unterhaltung noch einmal durch den Kopf gehen. Manche Äußerung, wie zum Beispiel die Andeutung in Tanyas Gegenwart, dass sie einen Beitrag dazu geleistet hatte, ihn mit Desjani zusammenzubringen, war untypisch gedankenlos. Dann wieder hatte Rione den Eindruck erweckt, ein noch heimlicheres Spiel zu treiben als beim letzten Mal, selbst wenn sie auf den ersten Blick ganz offen und ehrlich zu reden schien. Warum sind Sie tatsächlich zurückgekommen, Victoria? Wie sehr sind Sie meine Verbündete, und wie sehr folgen Sie der von der Regierung vorgegebenen Linie? Und inwieweit arbeiten Sie heimlich an der Vollendung Ihrer eigenen Ziele, wie auch immer die aussehen mögen?
Und so viel Sie mir auch anvertraut haben – wie viel haben Sie mir gleichzeitig verschwiegen?
Viel später an diesem Tag begegnete er Tanya in einem der Schiffskorridore wieder. »Hatten Sie Gelegenheit, sich diese speziellen Befehle vom Großen Rat anzusehen?« Die Befehle, die Rione für ihn mitgebracht hatte und die ausschließlich für ihn bestimmt waren. Zum Teufel mit der Geheimniskrämerei, ich brauche andere Perspektiven.
Desjani verzog den Mund. »Leider ja.«
»Genau. Endlos viele Anweisungen nach dem Prinzip: ›Tun Sie dies, es sei denn, Sie sollten es besser bleiben lassen, und tun Sie jenes nicht, es sei denn, Sie sollten es tun.‹«
Sie antwortete nicht sofort, sondern schaute auf einen weit entfernten Punkt. »Berücksichtigen Sie bitte, dass meine persönlichen Gefühle nicht hineinspielen, wenn ich sage, dass diese Frau Sonderbefehle für uns mitgebracht hat, und wenn ich mich dann frage, wie eigentlich ihre eigenen Befehle lauten.«
»Das habe ich mich auch schon gefragt.«
»Die haben sie nicht bloß als Kurier hergeschickt, sondern noch aus irgendwelchen anderen Gründen. Solange wir diese Gründe nicht kennen, möchte ich Sie bitten, sie wie eine potenzielle Gefahr zu behandeln.«
»Das werde ich auch«, versicherte Geary ihr. »Mir passen schon die Befehle nicht, von denen sie uns in Kenntnis gesetzt hat. Vor allem nicht ihre Anweisung, dass wir uns ins Dunai-Sternensystem begeben sollen. Ich hatte vor, einen Sprung nach Indras im Syndik-Territorium zu unternehmen und von dort durch das Hypernet der Syndiks bis nach Midway zu reisen, damit wir von da den Sprung ins Alien-Territorium unternehmen können. Der einfachste und schnellste Weg, um die Strecke zurückzulegen. Stattdessen will der Große Rat, dass die Flotte einen Abstecher nach Dunai unternimmt, damit wir unsere Kriegsgefangenen aus einem Lager der Syndiks holen.« Er war wütend und fühlte sich zugleich hilflos, weil er sich über solche Befehle nicht hinwegsetzen konnte. »Die erforderlichen Zwischenstopps und Sprünge verlängern unseren Flug nach Midway um drei Wochen.«
»Wieso Dunai?«, hakte Desjani nach. »Wieso ist dieses Gefangenenlager wichtiger als all die anderen, in denen es auch noch genügend Gefangene gibt, die auf eine Rückkehr in die Allianz warten?«
»Der Befehl sagt darüber nichts aus, und Rione behauptet, nichts zu wissen.«
»Stecken Sie sie für eine halbe Stunde in einen Verhörraum, dann …«
Er winkte ab und machte eine hilflose Geste. »Ich wünschte, ich könnte das machen. Aber es gibt keine Grundlage, um eine Zivilperson und Regierungsrepräsentantin so zu behandeln. Wir müssen nach Dunai, Tanya.«
»Und warum nicht auf dem Rückweg?«, wollte sie wissen. »Was wir an Vorräten für diesen Umweg verbrauchen, könnte uns fehlen, wenn wir uns später im Gebiet der Aliens befinden. Außerdem wäre das schon deshalb sinnvoller, damit wir nicht mit Schiffen voller befreiter Kriegsgefangener zu den Aliens reisen müssen.«
»Sie haben völlig recht. Aber es bleibt keine Zeit mehr, gegen den Befehl Einspruch einzulegen, weil das unsere Abreise um Wochen hinauszögern würde. Und wie soll ich argumentieren, wenn der Abstecher nach Dunai einfach nur lästig ist, aber sonst nichts? Ich kann diesen Befehl nicht verweigern. Es ist machbar und es ist völlig rechtmäßig vom Hauptquartier, so etwas anzuordnen. Das Ganze ist nicht unverhältnismäßig gefährlich oder riskant – soweit wir das wissen – und es stellt keine Gefährdung unserer eigentlichen Mission dar. Das ist nicht mit diesem Kriegsgerichtsblödsinn des Hauptquartiers vergleichbar.«