»Das ist möglich, aber …«
»Möglich? Sie hat diese Flotte für ihre persönlichen Zwecke benutzt …«
»Tanya, hör mir doch erst einmal zu.« Er wartete, während sie tief durchatmete und das Lodern in ihren Augen ein wenig nachließ. »Ich hatte Zeit, um darüber nachzudenken. Mein erster Eindruck war, dass sie schockiert war, ihren Ehemann wiederzusehen. Aber sie ist sehr gut darin, ihre wahren Gefühle zu verbergen, deshalb sagt mein Eindruck nichts Endgültiges aus.«
»Sie ist …«
»Mehr Sorge bereiten mir all die anderen VIPs.«
Desjani atmete langsam und gleichmäßig weiter, zwar immer noch aufgebracht, aber nun in einer deutlich beherrschten Weise. »VIPs wie Falco.«
»Richtig, und die gleich zu Hunderten.«
Sie kniff die Augen zusammen, während das Feuer in ihnen weiß aufglühte. »Wieso? Du konntest Falco nicht ausstehen. Und die Regierung konnte ihn auch nicht leiden. Warum lässt man dann Leute von seinem Schlag dutzendfach auf uns los?«
»Das weiß ich nicht.« Er setzte sich hin, eine Hand an seiner Stirn, während er versuchte seine Verärgerung und seinen Frust zu unterdrücken. Die Gefechtsration stand unangetastet auf dem Tisch, jeglicher Appetit war für den Augenblick vergessen. »Mit Sicherheit weiß ich nur, dass diese Leute hier sind und dass wir mit ihnen ins Gebiet der Aliens fliegen.«
»Hunderte von Leuten, die sich nichts sagen lassen werden und die glauben, dass nur sie das Richtige tun.« Desjani schüttelte ratlos den Kopf. »Welchen Nutzen sollte das für uns haben?«
»Ich glaube, Rione weiß, warum wir losgeschickt wurden, um sie da rauszuholen.«
»Ihre geheimen Befehle. Aber warum will die Regierung diese Falco-Imitatoren nicht solange wie möglich in den Händen der Syndiks lassen? Warum ist ihre Befreiung wichtiger als unsere Mission?«
»Das weiß ich auch nicht.« Gearys Blick ruhte auf dem Sternendisplay, das über dem Tisch schwebte und in dessen Zentrum noch immer das Dunai-Sternensystem dargestellt wurde. »Selbst wenn Rione gewusst haben sollte, dass ihr Ehemann in Dunai zu finden ist, warum sollte die Regierung sich damit einverstanden erklären, dass sie die ganze Flotte wegen einer privaten Angelegenheit einen Umweg einlegen lässt? So viel Macht und Einfluss hat sie nicht. Sie wurde aus ihrem Amt gewählt. Und welchen Grund sollte die Regierung haben, ihr das zu erlauben, wenn sie auch nur eine Ahnung davon hatten, dass all diese Senioroffiziere hier zu finden sein würden?«
»Das muss eine Art Belohnung gewesen sein«, überlegte Desjani. »Etwas, das sie gefordert hat, damit sie im Gegenzug diese Mission annimmt und die Befehle ausführt, die man ihr erteilt hat.« Sie schien kurz davor zu stehen, Rione zu verhaften.
»Sie ist immer noch eine autorisierte Repräsentantin der Regierung, Tanya. Selbst wenn die Regierung ihr zugestanden hat, uns in dieses System zu schicken, damit sie eine persönliche Angelegenheit erledigen kann, ist es trotz allem das gute Recht der Regierung, so etwas zu tun.«
Auch Desjani setzte sich nun hin und sah ihn finster an. »Bist du dir ganz sicher, dass du kein Diktator sein willst?«
»Ja.« Allerdings brachte sie ihn damit auf einen anderen Gedanken. »Wir wissen, die Regierung fürchtet sich vor dieser Flotte. Sie hat Angst vor dem, was ich mit der Flotte im Rücken tun könnte. Aber jetzt haben sie dafür gesorgt, dass sich bei uns noch mehr Leute befinden, die einen Militärputsch befürworten würden. Entweder ist das völlig irrational oder so genial verdreht, dass es nur scheinbar keinen Sinn ergibt.«
»Und was ist, wenn diese geheimen Befehle die Sicherheit der Flotte gefährden?«
»Das wissen wir nicht …«
»Wir wissen auch alles andere nicht«, fiel sie ihm ins Wort, sprang von ihrem Sessel hoch und ging zur Luke, um sie wütend aufzureißen. »Das ist das Gleiche wie bei den Aliens.«
»In solchen Fällen ist ein gewisses Maß an Desorientierung ganz normal«, erklärte der Chefarzt der Flotte an Geary gewandt. »Aber für diese Individuen sind die Schwierigkeiten bei der Eingewöhnung deutlich ausgeprägter. Es war eine gute Idee, so viele von ihnen auf die Mistral zu bringen, denn so konnte ich sie persönlich untersuchen.«
Geary nickte lächelnd, als wäre das tatsächlich seine vorrangige Absicht gewesen.
»Bezeichnen Sie mich ruhig als altmodisch«, fuhr der Arzt fort, »aber ich glaube, dass selbst die beste virtuelle Untersuchungssoftware Dinge übersieht. Für sich betrachtet nur Kleinigkeiten, aber von entscheidender Bedeutung bei der Beurteilung eines Individuums.«
»Können Sie Ihre Eindrücke zusammenfassen?«, fragte Geary.
»Das habe ich bereits gemacht.« Der Mediziner zögerte. »Ich schätze, ich könnte noch etwas mehr ins Detail gehen. Sie alle haben mindestens mehrere Jahre in einem Syndik-Arbeitslager zugebracht, viele von ihnen sogar mehrere Jahrzehnte. Sie haben sich daran gewöhnt, sich in einem eng gefassten Gebiet zu bewegen, sich den Vorschriften anderer unterzuordnen, ohne etwas dagegen einwenden zu können.«
Das klingt ganz so wie beim Militär, dachte Geary.
»Aber hinzu kommt, dass gewisse Konstanten sich verändert haben. Der Krieg ist vorüber, und damit ist ein wesentlicher Faktor einer als unveränderlich wahrgenommenen Realität verschwunden. Anders als bei uns, die wir als freie Menschen die Entwicklung der jüngsten Zeit miterleben konnten, werden sie nun schlagartig mit komplett neuen Verhältnissen konfrontiert. Sie müssen erfahren, dass jenseits des von Menschen besiedelten Alls eine fremde, intelligente Spezies existiert. Und dann wären da auch noch Sie, dieser Black Jack, der allen rationalen Erwartungen zum Trotz wahrhaftig von den Toten auferstanden ist – natürlich nur im übertragenen Sinn. Und dann haben Sie auch noch das Unmögliche möglich gemacht. Diesen ehemaligen Gefangenen muss das so vorkommen, als wären sie in einer Traumwelt gelandet, aber nicht in dem Universum, in dem sie vor ihrer Gefangennahme lebten.«
Der Flottenarzt schaute vor sich ins Leere, seufzte einmal und konzentrierte sich dann wieder auf Geary. »Bei diesen Gefangenen hat sich ein weiterer besonderer Faktor gezeigt. Wie Sie vermutlich bereits wissen, handelt es sich größtenteils um recht hochrangige Offiziere. Vor ihrer Gefangenschaft waren sie daran gewohnt, dass sie das Sagen hatten oder dass sie einen beträchtlichen Einfluss auf die Dinge nehmen konnten, die sich um sie herum abspielten. Viele von ihnen glaubten, wegen ihrer eigenen Fähigkeiten eine außergewöhnliche und sehr persönliche Rolle im Krieg zu spielen. Sie glaubten, dass das Schicksal Großes für sie vorgesehen hatte. Es gibt für diese Überzeugungen einen medizinischen Begriff.«
Geary konnte seinerseits einen Seufzer nicht verhindern. »Das Geary-Syndrom.«
»Genau! Davon haben Sie gehört?«, fragte der Arzt überrascht, als sei es für ihn fast unvorstellbar, dass ein Nicht-Mediziner mit diesem Begriff vertraut war.
»Man hat mich darauf hingewiesen.«
»Dann bin ich mir sicher, Sie können verstehen, dass es für diese Leute schwer zu akzeptieren ist, mit einem Mal in dieser Flotte keinerlei Autorität zu besitzen, obwohl sie den nötigen Dienstgrad und auch das entsprechende Dienstalter vorweisen können. Viele von ihnen haben trotz ihrer Gefangenschaft daran geglaubt, die Syndiks besiegen und die Allianz retten zu können. Dieser Glaube hat sie durchhalten lassen. Aber Sie haben diesen Krieg bereits gewonnen und damit jenen Männern und Frauen ihrem Gefühl nach ihr eigenes Schicksal weggenommen.«
Er benötigte keine weiteren Erklärungen, um zu erkennen, wie viel Ärger ihm diese Desorientierung bescheren konnte. »Ich werde mit ihnen als Gruppe reden. Das Treffen wird in zehn Minuten stattfinden.«
»Diese Leute erwarten, dass Sie mit Ihnen Gespräche unter vier Augen führen. Ich habe bereits viele von ihnen sinngemäß sagen hören: ›Ich bin davon überzeugt, dass ich in kürzester Zeit einen angemessenen Kommandoposten übertragen bekomme.‹ Einige von ihnen rechnen fest damit, das Kommando über diese Flotte zu übernehmen.«