»Captain, es gibt keinen Beleg dafür, dass auch nur ein einziges dieser Gerüchte zutrifft«, protestierte Gioninni.
»Würden wir einen Beleg finden, dann könnten Sie die nächsten fünfhundert Jahre in der Arrestzelle zubringen, Master Chief.« Desjani machte eine Geste in die ungefähre Richtung, in der sich die Hilfsschiffe befanden. »Master Chief Gioninni ist meiner Meinung nach bestens geeignet, um die Aktivitäten an Bord der anderen Schiffe der Flotte daraufhin zu überwachen, ob sich dort irgendetwas abspielt, das nicht den Vorschriften entspricht.«
»Auf der Grundlage meiner Professionalität und meiner scharfen Beobachtungsgabe, versteht sich«, fügte der Master Chief erläuternd an.
»Ja, natürlich«, stimmte Geary zu, der sich fragte, ob Gioninni die Reinkarnation eines Senior Chiefs war, den er vor hundert Jahren gekannt hatte. »Warum sollte jemand, der sich vorschriftswidrig verhält, daran interessiert sein, die vorschriftswidrigen Verhaltensweisen anderer zu melden? Das ist eine rein theoretische Frage, wie Sie sich sicher vorstellen können.«
»Nun, Sir, rein theoretisch gesprochen«, antwortete Gioninni, »wäre jemand, der sich so verhält und daraus Profit erzielt, sicher an so wenig Konkurrenz wie möglich interessiert. Und er würde wohl auch nicht wollen, dass diese Konkurrenz versucht, Beweismaterial gegen ihn zutage zu fördern. Was nicht heißen soll, dass derartiges Beweismaterial existieren könnte.«
»Ja, natürlich.« Es fiel Geary schwer, eine ernste Miene zu wahren. »Ich muss allerdings wissen, was Sie als Ihre oberste Priorität ansehen, Master Chief.«
»Meine oberste Priorität, Sir?« Gioninni überlegte einen Moment lang. »Selbst wenn ich einmal davon ausgehe, dass an gewissen Gerüchten etwas wahr sein könnte, Admiral, schwöre ich bei der Ehre all meiner Vorfahren, dass ich niemals zulassen würde, dass diesem Schiff etwas zustößt. Oder einem der anderen Schiffe. Oder irgendjemandem auf irgendeinem der Schiffe.«
Geary sah zu Desjani, die mit einem kurzen Nicken zu verstehen gab, dass sie dem Mann glaubte. »Also gut«, sagte er. »Behalten Sie die Dinge im Auge, und wenn es etwas gibt, das wir wissen sollten, dann geben Sie uns sofort Bescheid.«
»Und wenn wir herausfinden, dass Sie irgendwem gegenüber bereits versprochen haben, Stillschweigen zu wahren, um am Profit teilzuhaben, dann werden Sie sich viel früher zu Ihren Vorfahren begeben, als Sie sich vorstellen können«, ergänzte Desjani und warf ihm dabei ihren bedrohlichsten Blick zu.
»Ja, Ma’am!« Gioninni salutierte, dann verließ er in bester militärischer Haltung das Quartier.
»Und Sie haben ihn bislang noch bei nichts ertappen können?«, fragte Geary an Desjani gewandt.
»Noch nicht, aber das ist vielleicht auch gut so. Es gibt Situationen, in denen bestimmte, dringend notwendige Dinge auf den offiziellen Wegen nicht schnell genug beschafft werden können. Bei solchen Gelegenheiten hat sich Master Chief Gioninni bereits als sehr nützlich erwiesen. Aber natürlich hat ihm nie jemand aufgetragen, die vorgeschriebenen Dienstwege zu umgehen.«
»Ja, natürlich.«
Bei 0,1 Licht dauerte es eineinhalb Tage, um vom Ankunftspunkt im Hasadan-System zum dortigen Hypernet-Portal zu gelangen. Geary musste sich immer wieder davon abhalten, eine höhere Geschwindigkeit anzuordnen, die sie früher das Portal erreichen und damit auch eher im Midway-System eintreffen ließe, um endlich in das Gebiet der Aliens vordringen zu können.
Kurz vor Erreichen des Hypernet-Portals bat ihn Captain Tulev um ein Gespräch unter vier Augen. Es war eine ungewöhnliche Bitte, war doch Tulev jemand, der seine Gedanken und Gefühle normalerweise für sich behielt. Aber nun schien er einen Moment lang um Worte verlegen zu sein, ehe er zu reden begann: »Admiral, es gibt da eine Sache, von der ich möchte, dass Sie sie wissen. Es geht um die befreiten Gefangenen von Dunai. Einer von ihnen, Colonel Tukonov, ist mein Cousin.«
Geary hatte Mühe, eine passende Erwiderung zu finden. Seines Wissens war Tulevs ganze, weit verzweigte Familie bei Raumschlachten und bei dem brutalen Syndik-Bombardement seiner Heimatwelt umgekommen. »Das ist doch eine erfreuliche Nachricht.«
»Ja. Colonel Tukonov war für tot gehalten worden, zusammen mit dem Rest seiner Einheit, von der seit neunzehn Jahren kein Lebenszeichen mehr gekommen war. Jetzt lebt er doch noch.« Wieder rang Tulev mit dem, was er sagen wollte. »Die Toten kehren ins Leben zurück. Sie. Mein Cousin. Der Krieg ist vorüber. Die Menschheit stellt fest, dass sie nicht allein im Universum ist. Das sind außergewöhnliche Zeiten.«
»Sie hören sich schon fast so an wie Tanya Desjani.«
Ein flüchtiges Lächeln umspielte seine Lippen. »Es gibt Schlimmeres, Admiral. Sie ist eine großartige Frau.«
»Da werde ich Ihnen nicht widersprechen. Danke, dass Sie mir wegen Ihres Cousins Bescheid gesagt haben. Es ist schön zu wissen, dass die Befreiung dieser Gefangenen wenigstens eine erfreuliche Sache nach sich gezogen hat.
Tulev dachte über Gearys Worte nach. »Diese Leute sind sehr aktiv, aber in erster Linie streiten sie sich untereinander, weil zu viele von ihnen der Meinung sind, den Anspruch auf das Kommando über die Flotte anmelden zu können.«
»Es ist schon gut, dass ihr hoher Dienstgrad und ihr Statusdenken zugleich ihre größten Schwächen sind«, meinte Geary dazu. »Wir haben ein paar von ihnen auf der Dauntless, und ich überlege momentan, ob ich sie nicht zu den anderen auf die Haboob und die Mistral schicken sollte.«
»Auch den Ehemann der Gesandten Rione?«, fragte Tulev. »Tun Sie das besser nicht, Admiral.«
»Wieso nicht?« Commander Benan hatte seit der Szene im Korridor keinen Ärger mehr gemacht, aber Geary hielt es dennoch für keine so schlechte Idee, den Mann von seinem Schiff zu schaffen.
»Sie sagten doch, dass die Gesandte Rione den Befehl hat, bei Ihnen auf der Dauntless zu bleiben«, erläuterte Tulev. »Sie wollen also ihren Ehemann wegschicken, während Sie beide sich gemeinsam auf einem Schiff befinden?«
»Oh.« Verdammt, das hörte sich wirklich sehr übel an. »Das sollte ich vielleicht besser nicht machen.«
»Ich bin kein Experte auf dem Gebiet, aber ich glaube, damit liegen Sie richtig.« Tulev nahm Habtachthaltung an, ein Zeichen dafür, dass er die Unterhaltung beenden wollte. »Behalten Sie die befreiten Gefangenen im Auge? Mein Cousin wird mir sicher das eine oder andere berichten, aber ich weiß nicht, ob er etwas davon mitbekommen wird, falls ein paar von denen … irgendetwas planen.«
»Wir behalten sie im Auge«, versicherte Geary ihm, aber nachdem Tulevs Bild verschwunden war, ließ er sich in seinen Sessel fallen. Lieutenant Iger kann in begrenztem Umfang die Aktivitäten der Ex-Gefangenen überwachen, aber früher konnte ich immer darauf zählen, dass Riones Agenten innerhalb der Flotte sie auf drohenden Ärger aufmerksam machten. Nicht, dass diese Agenten absolut alles bemerkt hätten. Bei Weitem nicht. Zum ersten Mal fragte er sich, ob die Agenten wohl noch aktiv waren und nach wie vor Rione Bericht erstatteten. Seit sie auf die Dauntless zurückgekehrt ist, hat sie darüber kein Wort verloren. Sie meidet die meiste Zeit über die Brücke, was zumindest Tanya freut.
Er verließ sein Quartier und machte sich auf den Weg zur Brücke. Dort angekommen nahm er seinen Platz ein und überflog die Daten auf dem Display, das automatisch vor ihm in der Luft auftauchte, sobald er in seinem Sessel saß. Die Flotte war noch immer in der Formation November unterwegs, die fünf rechteckigen Unterformationen näherten sich dabei kontinuierlich dem riesigen Hypernet-Portal, das nun nicht mehr in so weiter Ferne war.
Geary tippte auf seine Kontrollen und wandte sich an die ganze Flotte: »Hier spricht Admiral Geary. Die letzten Nachrichten aus Midway sind mittlerweile einige Monate alt. Wir können nur hoffen, dass wir den Aliens beim letzten Mal die Nase so blutig geschlagen haben, dass sie dem System ferngeblieben sind. Dennoch besteht die Möglichkeit, dass sie zurückgekehrt sind und das System besetzt halten. Alle Schiffe müssen in dem Augenblick in Gefechtsbereitschaft sein, wenn wir das Portal bei Midway verlassen. Wenn sich die Aliens in unmittelbarer Nähe zum Hypernet-Portal aufhalten, werden sie als feindselig betrachtet, und wir eröffnen sofort das Feuer.«