Lagemann sah Geary an. »Was verschafft mir denn diese Ehre?«
»Ich hatte gehofft, Sie und Ihre Kameraden könnten mir bei einer sehr wichtigen Aufgabe behilflich sein.«
»Ich persönlich hab’s Ihnen nicht übel genommen«, sagte Lagemann skeptisch, »dass Sie keine Zeit erübrigen konnten, um bei uns Händchen zu halten. Und ich weiß auch, dass es nur eine sehr kleine Zahl an Kommandoposten gibt, auf denen Sie Admiräle und Generäle gebrauchen können. Ich würde mich freuen, irgendetwas Sinnvolles zu tun zu bekommen. Falls es Sie interessiert, kann ich Ihnen durchgeben, wie viele Wollmäuse in den Korridorecken rumliegen. Wir hatten Zeit genug für eine genaue Bestandsaufnahme.«
»Soweit ich weiß, gehören Wollmäuse nicht zu den gefährdeten Arten, Admiral. Sie wissen, wir befinden uns im Territorium einer intelligenten nichtmenschlichen Spezies, die sich bislang als sehr feindselig erwiesen hat. Wir verfügen über wenige Daten und kaum Erfahrung mit diesen Aliens, aber wir müssen davon ausgehen, dass es weiter zu bewaffneten Auseinandersetzungen kommen wird. Sie und Ihre Kameraden haben zwar schon eine Weile keine Gefechtserfahrung mehr sammeln können, aber Sie verfügen über genügend Wissen und Übung im Umgang mit einem Feind. Sie könnten das Problem auch aus einem ganz anderen Blickwinkel betrachten als wir, weil wir mittlerweile alle mit einer bestimmten Einstellung an das Thema herangehen, die Sie noch nicht entwickelt haben. Ich möchte Sie bitten, unsere Aufzeichnungen zu begutachten, die aus Material von den Syndiks und von unserer Flotte bestehen, und zu versuchen, die Denkweisen und Gefechtstaktiken der Aliens zu analysieren. Wie werden sie sich in einem Gefecht am wahrscheinlichsten verhalten? War die Situation bei Midway eine Anomalie, oder werden die Aliens beim nächsten Mal wieder so agieren? Welche anderen Taktiken müssen wir von ihnen noch erwarten?«
Admiral Lagemann dachte kurz nach, dann nickte er. »Also keine reine Beschäftigungstherapie? Ich kann zwar nichts versprechen, aber darum geht es ja auch gar nicht. Wenn wir etwas herausfinden, dann könnte das beim nächsten Gefecht eine entscheidende Rolle spielen. Wenn wir nichts finden, haben Sie nichts verloren.«
»Genau. Wären Sie dazu bereit, Admiral?«
»Ja, und ich weiß, dass viele meiner Kameraden dabei werden mitmachen wollen.« Lagemann schaute kurz zur Seite und atmete einmal tief durch. »Wissen Sie, das ist keine leichte Rolle, die wir derzeit spielen. Es wird uns viel bedeuten, wenn wir uns wieder sinnvoll betätigen können. Dürfte ich Sie um einen Gefallen bitten?«
»Gegen das Essen auf der Mistral kann ich auch nichts unternehmen.«
Lagemann grinste ihn an. »Nach siebzehn Jahren Syndik-Rationen schmeckt das Flottenessen wieder richtig gut. Nein, ich wollte Sie eigentlich um eine Gelegenheit bitten, etwas länger mit Ihnen reden zu dürfen, vor allem über das Thema Taktik. Ich und einige andere hier würden gern die Gelegenheit bekommen, von Ihnen mehr darüber zu erfahren, wie Sie diese Gefechte geführt haben, die den Syndiks letztlich das Genick gebrochen haben. Die Art, wie unsere Vorfahren gekämpft haben, meine ich.«
»Natürlich, Admiral.« Geary bekam ein schlechtes Gewissen, dass er so viele fähige Senioroffiziere zusammen mit den Unruhestiftern auf den Sturmtransportern quasi eingesperrt hatte. »Ich werde alle erwähnten Aufzeichnungen für Sie zur Mistral senden. Wenn jemand auf der Haboob daran mitarbeiten will, erteile ich Ihnen hiermit die Erlaubnis, die Aufzeichnungen weiterzuleiten. Wären Sie bereit, heute Abend mit mir zu reden?«
»Das wäre wunderbar.« Lagemann schaute auf seine Hand, dann salutierte er ungelenk. »Ich habe gehört, das ist in der Flotte die neueste Mode. Bis heute Abend, Admiral.«
Geary erwiderte lächelnd den Salut. Vielleicht wollte mir ja jemand einen Klotz ans Bein hängen, als er sich den Befehl ausdachte, all diese Senioroffiziere aus der Gefangenschaft zu befreien. Aber das heißt noch lange nicht, dass ich diese Leute nicht zum Nutzen der Flotte einsetzen kann.
Knapp eine Stunde, bevor die Flotte den Sprungpunkt nach Alihi erreichen sollte, kehrte Geary zurück auf die Brücke. Damit verblieben noch gut fünfunddreißig Minuten, bis die Flotte möglicherweise von der Druckwelle eines kollabierenden Hypernet-Portals erfasst wurde, die sie mit der Wucht einer Nova treffen würde. Da nicht nur die größeren Hilfsschiffe, sondern auch einige Schlachtschiffe Mühe hatten, die optimale Beschleunigung zu erreichen, hinkte die Flotte hinter dem Zeitplan her. Damit war die Zeitspanne größer geworden, in der sie der Gefahr der völligen Zerstörung ausgesetzt war.
»Die Orion konnte nicht mithalten«, sagte Geary mehr zu sich selbst.
»Die Revenge und die Indomitable auch nicht«, ergänzte Desjani. »Man kann so viel testen und basteln wie man will, aber manche Probleme mit der Ausrüstung zeigen sich erst, wenn man sie zu Höchstleistungen antreibt.«
»Das weiß ich.«
»Ich weiß, dass Sie das wissen.«
Er beschloss, diese Unterhaltung nicht weiterzuführen.
Noch zehn Minuten bis zu dem Moment, da das Hypernet-Portal kollabieren konnte. Geary starrte auf die Darstellung des Hypernets auf seinem Display, obwohl sich da in den nächsten Minuten nichts tun konnte – es sei denn, die Aliens hatten die Zerstörung bereits befohlen, noch bevor die Flotte Kurs auf den Sprungpunkt genommen hatte.
Zwei weitere Alien-Kriegsschiffe hatten sich den beiden angeschlossen, die mit einem Abstand von einer Lichtstunde hinter der Allianz-Flotte herjagten und dabei die gleiche unfassbare Manövrierfähigkeit demonstrierten wie zuvor bereits bei Midway.
Fünf Minuten. Die Wachhabenden auf der Brücke versuchten, sich alle so zu verhalten, als würden sie routinemäßig ihre Arbeit erledigen. Aber Geary entging nicht, dass die Blicke immer wieder zu einem bestimmten Punkt auf dem jeweiligen Display wanderten – jenem Punkt, an dem das Hypernet-Portal angezeigt wurde.
Eine weitere Aktion war notwendig, auch wenn die jedem Instinkt widersprach, der nichts anderes wollte, als mit Höchstgeschwindigkeit auf den Sprungpunkt zuzufliegen. Aber ein Schiff, das zu schnell flog, konnte nicht in den Sprungraum überwechseln. »Alle Schiffe bei Zeit fünf null um eins acht null Grad drehen und auf 0,1 Licht abbremsen.« Ab dem Moment würde die Flotte langsamer werden, und damit verlängerte sich der Zeitraum, in dem sie schutzlos war. Allerdings gab es nichts, was man dagegen hätte unternehmen können.
Eine Minute.
Desjani gähnte. »Es wäre schön, mal irgendwo hinzukommen, wo es für uns was zu tun gibt, nicht wahr, Lieutenant Yuon?«
Yuon musste schlucken, ehe er mit halbwegs fester Stimme antwortete: »Ja, Captain.«
»Wie geht es Ihrer Familie auf Kosatka?«, fragte sie weiter.
»Gut, Ma’am. Alle wollten die ganze Zeit nur über … Sie wissen schon was reden.«
Geary sah zu Yuon und versuchte, Desjanis Plauderton zu treffen. »Ich hoffe, Sie haben Gutes über mich berichtet, Lieutenant.«
»Ähm … natürlich, Sir.«
»Eintritt in die kritische Phase«, meldete der Steuerwachhabende.
Desjani zog einen Verpflegungsriegel aus der Tasche. »Hunger?«, fragte sie Geary.
»Ich habe schon gegessen. Ist das ein Yanika Babiya?«
»Nein, das ist …« Sie schaute auf das Etikett. »Hühnchencurry, extra gewürzt.«
»Ein Hühnchencurryriegel? Wie schmeckt der?«
Desjani biss ein kleines Stück ab und begann zu kauen, wobei sie so tat, als würde sie nichts davon merken, dass alle auf sie schauten, aber nicht auf die Darstellung des Hypernet-Portals der Aliens. »Da ist auf jeden Fall Curry drin. Extra gewürzt würde ich nicht sagen. Ein Teil von dem Rest schmeckt wie Hühnchen.«
»Das hat nicht viel zu sagen«, meinte Geary.