Captain Shen war bei den Konferenzen meistens ein schweigsamer Teilnehmer, nun jedoch meldete er sich ein zweites Mal zu Wort und deutete mit einer Kopfbewegung auf das Display. »Vermutlich haben sie Zeit und Mühe investiert, um die Menschen zu erforschen. Das Problem ist, dass wir im Gegenzug viel zu wenig über sie wissen. Während sie für uns unsichtbar durch unser Gebiet gezogen sind, müssen sie ungeheure Datenmengen zusammengetragen haben. Wie werten sie diese Daten aus, wie filtern sie sie und welche Schlüsse ziehen sie daraus?«
»Einer unserer ersten Hinweise auf ihre Existenz«, fügte Geary an, »war ein aufgebrochener Safe in einem von den Syndiks aufgegebenen Sternensystem. Das muss Teil der Bemühungen der Enigmas gewesen sein, Daten über uns zu sammeln. Vielleicht dachten sie ja aufgrund ihrer eigenen verschlossenen Art, dass die Wahrheit über uns irgendwo in Tresoren versteckt aufbewahrt wird, und nicht für jeden offen erkennbar ist.«
»Wenn sie die Wahrheit über uns herausfinden«, meinte Shen, »dann hoffe ich, dass sie uns an ihren Erkenntnissen teilhaben lassen. Ich kenne nämlich nur wenige Leute, die zu dem Thema die gleiche Meinung haben. Ich unterstütze den Vorschlag, ins Allianz-Gebiet zurückzukehren, weil ich keinen Sinn darin sehe, noch tiefer in das Territorium der Enigmas vorzudringen. Allerdings möchte ich noch eine Anmerkung zu Commander Neesons Überlegung machen. Wenn Hypernet-Portale der Verteidigung gegen ein benachbartes System dienen, dann wundert mich, wieso wir jetzt in Folge drei Sternensysteme gesehen haben, die alle über ein Portal verfügen.«
»Das könnte eine andere Grenze bedeuten«, sagte Neeson.
»Genau. Und zwar eine, bei der die Enigma-Rasse eine besonders massive Verteidigung für notwendig hält.«
Ein Alarm ertönte, das über dem Tisch schwebende Display wechselte die Ansicht und zeigte das System, in dem sie sich derzeit befanden. »Fünfzig weitere Enigma-Kriegsschiffe sind soeben eingetroffen«, kommentierte Desjani. »Bei über hundert Schiffen könnten sie glauben, dass das genügt, um uns anzugreifen.«
Geary nickte und nahm sich Zeit, die richtigen Worte zu wählen. Er konnte nicht verkünden, dass die Allianz-Streitmacht einem Kampf aus dem Weg gehen oder sich aus diesem System zurückziehen wollte, weil das für die über hundert Jahre entwickelte Einstellung innerhalb der Flotte immer noch zu schwierig zu erfassen war. »Wenn sie sich nähern, werden wir uns um sie kümmern. Aber ich werde nicht dasitzen und darauf warten, dass sie angreifen. Wenn dieses System an einer Grenze liegt, dann könnte es sich um eine Grenze zwischen den Enigmas und einer anderen intelligenten Spezies handeln. Falls die nicht mit den Enigmas klarkommt, stellt sie für uns einen natürlichen Verbündeten dar. Wir machen nach Plan weiter, und wenn sie uns weiterhin verfolgen wollen, können sie das gern tun.«
Desjani lehnte sich zurück und sah ihn kurz an, dann wanderte ihr Blick zu Duellos, und als er sie anschaute, nahm sie eine Hand in einer unauffälligen Geste zur Seite, die nur jemandem auffallen konnte, der sich ganz auf sie konzentrierte.
Einen Moment später nickte Duellos verstehend. »Admiral, darf ich vorschlagen, dass die Flotte ein vorausgeplantes Ausweichmanöver fliegt, sobald wir den Sprungraum verlassen? Wir haben immerhin Grund zu der Annahme, dass uns in dem System irgendetwas erwarten könnte.«
»Guter Gedanke. So machen wir’s.«
Admiral Lagemann hatte an der Konferenz ebenfalls teilgenommen, er vertrat die von Dunai befreiten Gefangenen. Es war eine Geste des guten Willens von Geary gegenüber den Offizieren, die nicht von Zeit zu Zeit versuchten, ihm das Kommando über die Flotte streitig zu machen. Nachdem fast alle anderen den Konferenzraum verlassen hatten, blieb Lagemann noch zurück. »Ich kann nicht leugnen, dass ich froh sein werde, wenn wir die Heimreise antreten. Viele von uns können es kaum erwarten.«
Duellos war auch noch geblieben und sah den Mann verwundert an. »Wieso nur viele von Ihnen? Wieso nicht alle?«
»Weil wir genug darüber gehört haben, was uns zu Hause erwartet. Der Krieg ist vorbei, das Militär wird verkleinert. Da werden wir gleich nach unserer Rückkehr in den Ruhestand geschickt.« Lagemann lächelte ein wenig bedrückt. »Das ist nicht so ganz die Zukunft, an die wir uns geklammert haben, um das Arbeitslager zu überstehen. Wir dachten, wir entkommen ihnen irgendwie und führen dann die Flotte oder die Bodentruppen zu bedeutenden Siegen. So, wie Black Jack von den Toten zurückkehrt.« Er grinste Geary an. »Tut mir leid. Ist eine alte Redewendung.«
»Und nicht die erste, die mir zu Ohren kommt«, erwiderte Geary.
»Aber«, fuhr der Admiral fort, »ich glaube, die Mehrheit wird damit zufrieden sein, wie sich die Dinge entwickelt haben. Natürlich gibt es viele, die mit der neuen Situation wohl nicht glücklich werden und die versuchen werden, die Dinge zu ändern und die Regierung zu kritisieren. Ich muss zugeben, ich kann nicht nachvollziehen, warum die Regierung unsere Befreiung zur Priorität erklärt hat. Wenn wir heimkommen, werden wir für eine Menge Probleme sorgen, aber zumindest haben Sie das um einige Monate hinausgezögert, indem Sie uns auf diese Mission mitgenommen haben.«
Ein Gedanke ging Geary durch den Kopf, und er konnte nur hoffen, dass ihm nichts anzumerken war. Warum mussten wir die Gefangenen befreien, bevor wir die Enigmas aufgesucht haben? Warum wollte die Regierung, dass sie uns auf einer Mission voller unbekannter Gefahren begleiten, bei der Schiffe verloren gehen können? Wenn etwas geschieht und wir werden aufgehalten, wenn wir Schiffe verlieren, wenn es zu einer Katastrophe kommt … dann bin ich nicht die einzige lästige Person, die der Regierung keinen Kummer mehr bereiten kann.
Navarro hätte so was nicht inszeniert, Sakai wohl auch nicht. Aber wer hofft auf einen solchen Ausgang? Welche Person in der Regierung hätte ein Interesse daran? Und wer im Flottenhauptquartier, das ganz sicher genau wie die Regierung keine Lust hat, sich mit Scharen von heimgekehrten Senioroffizieren herumzuschlagen?
Rione wusste, dass das Teil dieses Befehls war. Deshalb auch ihr fassungsloser Blick, als sie erkennen musste, dass ihr Ehemann ebenfalls in dieses Komplott reingerissen worden war. Aber soweit ich weiß, hat sie nichts getan, um den Plan voranzutreiben. Sie ist zwar keine große Hilfe, aber sie sabotiert uns zumindest auch nicht.
Die einzelnen Teile des Puzzles begannen langsam, sich zusammenzufügen, aber das Bild, das sie bildeten, gefiel ihm gar nicht.
Der folgende Sprung machte es erforderlich, aus den Sprungantrieben alles herauszuholen, um eine etwas größere Reichweite zu erzielen. Die Flotte setzte zum Sprung an, während sich hinter ihr mit einer Lichtstunde Abstand die beiden Enigma-Gruppen zusammenschlossen.
»Kann ich Sie sprechen, Admiral?« General Charban setzte sich auf den Platz, auf den Geary deutete, dann sah er sich in dessen Quartier um. »Viel ist es nicht, aber es ist trotzdem ein Zuhause, nicht wahr? Schon eigenartig, wie vertraut einem ein rein zweckmäßiges Quartier oder der Komplex eines Hauptquartiers werden kann, stimmt’s? Menschen können überall zu Hause sein, wo sie gerade sind. Ich habe da eine Idee, Admiral Geary«, wechselte er abrupt das Thema. »Es ist vielleicht eine Möglichkeit, auf der Grundlage von einvernehmlichem Eigeninteresse zu einer Einigung mit der Enigma-Rasse zu gelangen.«
»Ich bin ganz Ohr«, erwiderte Geary.
»Ich habe über ein paar Dinge nachgedacht, unter anderem auch darüber, was Dr. Shwartz bei unserer letzten Flottenkonferenz über die Widersprüche zwischen den Erklärungen der Aliens und ihrem Handeln gesagt hat. Es könnte sein, dass wir bei der Auslegung dieser Worte einen grundlegenden Fehler gemacht haben, indem wir annahmen, dass die Erklärungen der Enigmas ihrer tatsächlichen Motivation entsprechen.«