Thornhill sah zu Marga und tauschte ein fast unsichtbares Lächeln mit ihr aus. »Ich lehne eine Antwort darauf ab, La Floquet, will Ihnen aber das eine sagen: Je schneller ich aus dem Einfluß dieses Tales herauskommen kann, desto glücklicher werde ich sein.«
Als sie den Fuß des Hügels erreicht hatten und die anderen herbeigeeilt waren, trat Thornhill einige Schritte vor. Sechzehn Augen waren auf ihn gerichtet, einschließlich der zwei ausgefahrenen Tentakel des Spicaners.
»La Floquet und ich hatten oben auf dem Hügel gerade eine kleine Besprechung«, sagte er. »Wir sind zu einigen Entschlüssen gekommen, die wir dem Rest der Gruppe mitteilen möchten. Ich unterstelle, daß es für das Wohlergehen von uns allen notwendig ist, sofort einen Versuch zu unternehmen, dieses Tal zu verlassen. Im anderen Fall sind wir nämlich zu einem langsamen Tod der schlimmsten Sorte verurteilt — dem langsamen Verlust aller unserer Fähigkeiten.«
McKay unterbrach ihn. »Sie haben schon wieder die Seiten gewechselt, Thornhill. Ich hatte gedacht, daß vielleicht…«
»Ich habe bisher auf keiner Seite gestanden«, antwortete Thornhill schnell. »Es ist nur so, daß ich angefangen habe, nachzudenken. Hören Sie: Wir wurden innerhalb von zwei Tagen hierher gebracht, wurden aus unserem Leben herausgerissen, ganz gleich, wo wir uns gerade befanden, wurden von einer unvorstellbar fremden Kreatur in einem hermetisch abgeriegelten Tal abgesetzt. Tatsache ist: Wir werden ständig überwacht. Unsere Wunden verheilen fast sofort, und wir werden jünger. Sie, McKay, waren der erste, der das festgestellt hat.
Soweit, so gut. Dort befindet sich ein Berg, und höchstwahrscheinlich gibt es einen Weg aus diesem Tal. La Floquet hat versucht, ihn zu finden, aber er und Vellers haben es nicht geschafft; zwei Männer können nicht allein einen fast dreitausend Meter hohen Berg ohne Verpflegung und ohne Hilfe besteigen. Aber wenn wir alle losgehen…«
McKay schüttelte den Kopf. »Ich bin glücklich hier, Thornhill. Sie und La Floquet gefährden dieses Glück.«
»Nein«, mischte La Floquet sich ein. »Begreifen Sie denn nicht, daß wir einfach Haustiere hier sind? Daß wir Gegenstände eines vielleicht interessanten Experiments abgeben, weiter nichts? Und wenn diese Verjüngung anhält, sind wir innerhalb weniger Wochen oder Monate Kleinkinder.«
»Das interessiert mich nicht«, beharrte McKay stur. »Ich werde sterben, wenn ich das Tal verlasse — mein Herz würde es nicht überstehen. Jetzt sagen Sie, daß ich sterben werde, wenn ich bleibe. Aber immerhin durchlebe ich dabei noch einmal mein bestes Mannesalter, und diese Jahre habe ich draußen nicht mehr.«
»Also gut«, sagte Thornhill. »Letztendlich ist es eine Frage dergestalt, ob wir alle bleiben, damit McKay seine Jugend wieder genießen kann, oder ob wir einen Fluchtversuch machen. La Floquet, Marga und ich werden einen Versuch unternehmen, den Berg zu überqueren. Wer uns begleiten möchte, kann das tun. Diejenigen von Ihnen, die den Rest ihrer Tage hier im Tal verbringen möchten, können bleiben und uns großes Pech wünschen. Hat das jeder verstanden?«
Sieben von ihnen verließen am nächsten »Morgen« gleich nach dem Niedergang des Frühstücks-Mannas den Lagerplatz. McKay blieb mit der kleinen Lona Hardin zurück. Es gab einen kurzen, gespannten Augenblick des Abschiednehmens. Thornhill fiel auf, wie die Falten aus McKays Gesicht verschwunden waren, wie sein Haar wieder dunkler geworden war, wie sein Körper kräftiger wirkte. In gewisser Weise konnte er McKays Einstellung verstehen, aber auf keinen Fall konnte er sie akzeptieren.
Auch Lona Hardin sah jünger aus, und vielleicht machte sie zum ersten Mal in ihrem Leben den Versuch, ihr unauffälliges Äußeres zu verändern. Nun, dachte Thornhill, die beiden mögen sogar glücklich im Tal werden, aber es war die hirnlose Glücksvorstellung einer Marionette, und danach stand ihm für seine Person nicht der Sinn.
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, erklärte McKay, als die Gruppe sich anschickte loszuziehen. »Ich möchte Ihnen Glück wünschen, wenn ich es nur könnte.«
Thornhill grinste. »Vielleicht sehen wir Sie beide wieder — ich hoffe es nicht.«
Dann führte er die Gruppe am Berghang hinauf an; Marga lief neben ihm, ein paar Schritte hinter ihnen folgten La Floquet und Vellers, danach die drei Fremden. Der Spicaner, da war Thornhill sicher, hatte nur eine vage Vorstellung von dem, was vor sich ging; dem Regulaner hatte der Aldebaraner alles ausführlich erklärt. Eines schienen sie alle gemeinsam zu haben: Alle waren fest entschlossen, das Tal zu verlassen.
Der Morgen war warm und angenehm, Wolken hüllten die Spitze des Berges ein. Der Aufstieg, dachte Thornhill, wird anstrengend, aber nicht unmöglich sein — vorausgesetzt, der Zauber des Tales reichte über die Baumgrenze hinaus und vorausgesetzt, der Wächter störte diesen Exodus nicht.
Es gab keinerlei Störungen. Thornhill verspürte fast Bedauern, das Tal verlassen zu müssen und wurde sich im gleichen Augenblick klar, daß das ein subtiler Trick des Wächters sein konnte.
Nach dem halben Vormittag befanden sie sich bereits dreihundert Meter über dem Tal. Beim Blick nach unten konnte Thornhill kaum noch das silberne Band des Flusses in dem kleinen Becken erkennen, den das Tal bildete; und natürlich war nichts mehr von McKay zu sehen.
Langsam ging es der Baumgrenze entgegen. Der eigentliche Kampf würde erst später beginnen, draußen auf den nackten Felsen, wo der Wind nicht so sanft, die Luft nicht so samten war wie hier.
Thornhills Uhr zeigte Mittag an, er verkündete eine Pause und holte dann das Manna hervor, das sie sich vom morgendlichen Regen aufgehoben hatten. Es schmeckte trocken und schal, fast wie Stroh, besaß nur noch einen Hauch seines sonst anregenden Geschmacks. Aber wie Thornhill vermutet hatte, fand hier oben am Hang kein mittäglicher Mannaregen statt, und so würgte jeder von ihnen das trockene Zeug hinunter; keiner wußte schließlich, wann es wieder etwas Frisches geben würde.
Nach kurzer Rast ordnete Thornhill den Weitermarsch an. Sie waren nur wenige hundert Meter gegangen, als sie einen Schrei von weit unter sich vernahmen:
»Warten Sie, Thornhill!«
Der Angesprochene fuhr herum. »Hast du etwas gehört?« fragte er Marga.
»Das war McKays Stimme«, sagte La Floquet.
»Warten wir auf ihn«, befahl Thornhill.
Zehn Minuten vergingen, dann kam McKay in Sichtweite, wie er mit großen Schritten den Berg hinaneilte, Lona Hardin nur wenige Meter hinter ihm. Er holte die Gruppe ein, blieb einen Augenblick stumm stehen, um Luft zu holen.
»Ich habe beschlossen, mitzukommen«, sagte er dann. »Sie haben recht, Thornhill — wir müssen das Tal verlassen.«
»Und er glaubt, daß es seinem Herzen schon besser geht«, sagte Lona Hardin. »Wenn er jetzt das Tal verläßt, ist er vielleicht wieder gesünder als vorher.«
Thornhill lächelte. »Hat lange gedauert, Sie zu überzeugen, nicht wahr?« Er legte die Hand an die Stirn und schaute nach oben. »Wir haben noch einen langen Weg vor uns. Verschwenden wir keine Zeit mehr.«
6.
Eineinhalb Kilometer sind keine lange Strecke. Ein Mensch konnte sie in etwa einer halben Stunde zurücklegen — aber nicht eineinhalb Kilometer steil bergauf.
Sie legten zahlreiche Pausen ein, obwohl es nicht Nacht wurde und sie kein Bedürfnis hatten, zu schlafen. Manchmal mußten sie Hunderte von Metern auf einer Höhe zurücklegen, um nur einige Meter aufzusteigen, dann wieder bot sich erst nach langen Stunden die nächste Stelle, an der ein Aufstieg sinnvoll erschien. Es war eine schwere, langsame Arbeit, und der Berg schien höher und höher zu werden, je weiter sie kletterten.
Die Luft blieb überraschend warm, wurde niemals drückend, allerdings nahm die Windgeschwindigkeit mit zunehmender Höhe zu. Nirgendwo hier oben schien etwas zu leben — die zutraulichen Tiere des Tales bewegten sich nicht über die Baumgrenze hinaus, und die lag bereits weit unter ihnen. Die Neunergruppe arbeitete sich über loses Gestein und glatte Felsplatten voran.