Sein Blick blieb auf Marga Fallis ruhen. Das Mädchen war hübsch, kein Zweifel. Jawohl, er würde es hier unter den beiden Sonnen noch eine Weile aushalten, würde die frische Luft genießen und zum ersten Mal in seinem Leben aller Verantwortung ledig sein. Aber wie es schien, mußten sie zusammenbleiben: Wenn nur einer das Tal verließ, mußten alle mit. Und La Floquet war entschlossen, zu fliehen.
Ein Schatten verdunkelte das purpurne Licht.
»Was ist das?« fragte Thornhill. »Eine Sonnenfinsternis?«
»Der Wächter«, sagte McKay leise. »Er ist wieder da. Und es würde mich nicht überraschen, wenn er uns das neunte Mitglied unserer kleinen Gruppe bescheren würde.«
Thornhill sah zu der transparenten Dunkelheit, die sich auf das Land herabsenkte — die Sonnen waren dahinter noch zu erkennen, aber sie wirkten wie kleine Punkte mit unsichtbarer Strahlung. Es war, als hülle ein weichwolliger Mantel sie alle ein. Aber es war mehr als nur ein großes Stück Stoff, weit mehr. Thornhill verspürte ein Wesen in seiner Nähe, das aufmerksam und neugierig war und nichts weiter wollte, als wie eine Bruthenne für ihr Wohlergehen sorgen. Die fremdartige Dunkelheit legte sich über das gesamte Tal.
Das ist der letzte eurer Mitbewohner, sagte eine tonlose Stimme, die in Echos von den Bergwänden herunterzukommen schien. Der Himmel erhellte sich wieder, und plötzlich, wie sie gekommen war, war die Dunkelheit verschwunden. Thornhill spürte, daß sie wieder allein waren.
»Diesmal hatte der Wächter aber nur wenig zu sagen«, kommentierte McKay die Wiederkehr der Helligkeit.
»Seht dort!« rief Marga.
Thornhill folgte der Richtung ihres ausgestreckten Arms und schaute zu der Stelle auf dem Hügel, an der er zum ersten Mal sich des Tales um ihn herum bewußt worden war.
Eine winzige Gestalt lief dort in wirren Kreisen herum. Auf diese Entfernung war es unmöglich, Näheres über den Neuankömmling zu sagen. Thornhill fröstelte. Der Wächter war gekommen und wieder verschwunden und hatte dabei einen weiteren Gefangenen für dieses Tal abgesetzt.
2.
Thornhill kniff die Augen zusammen, während er zu der Felshöhle hinüberschaute. »Wir sollten ihn herunterholen«, schlug er vor.
La Floquet schüttelte den Kopf. »Noch ist Zeit. Es dauert ein bis zwei Stunden, bis der Neuankömmling die seltsame Illusion verliert, allein hier zu sein — Sie erinnern sich bestimmt, wie das war.«
»Allerdings«, bestätigte Thornhill. »Es ist, als hätte man sein ganzes Leben in einem Paradies verbracht… bis dieses Gefühl nach und nach verschwindet und man die anderen in seiner Umgebung entdeckt. Ich sah Sie und Marga auf mich zukommen.« Er ging ein paar Schritte zur Seite und setzte sich auf einen moosüberzogenen Felsbrocken. Eine kleine, drahtige, katzenartige Kreatur mit großen, abstehenden Ohren tauchte hinter ihm auf und rieb sich an den Beinen des Menschen; Thornhill streichelte das Wesen, als wäre es ein vertrautes Haustier.
La Floquet schirmte seine Augen gegen das Sonnenlicht ab. »Können Sie erkennen, wie er aussieht, der da oben?«
»Nein, auf diese Entfernung nicht«, antwortete Thornhill.
»Ich fürchte, wir können unserer Gruppe einen weiteren Fremden hinzufügen.«
Thornhill lehnte sich nach vorn. »Von wo?«
»Vom Aldebaran«, sagte La Floquet.
Thornhill blinzelte. Die humanoiden Wesen vom Aldebaran waren als kaltblütige, bösartige Rasse bekannt, die ihre Hinterhältigkeit unter einer Maske vertrauenerweckender Umgänglichkeit verbargen. Auf einigen äußeren Planeten wurden die Aldebaraner als Teufel bezeichnet, was gar nicht so verkehrt war. Und jetzt befand sich ein solcher Teufel hier im Paradies, wenn man so wollte…
»Wie wollen wir uns verhalten?« fragte Thornhill.
La Floquet zuckte die Schultern. »Der Wächter hat das Geschöpf hergebracht, und er verfolgt dabei seine eigenen Absichten. Wir müssen uns mit dem abfinden, was da kommt.«
Thornhill stand auf und lief unruhig hin und her. Die kleine, unscheinbare Frau und McKay standen auf einer Seite zusammen; der Spicaner stand am Ufer und starrte auf sein eigenes Spiegelbild im Wasser, und der Regulaner, an allem offenbar nicht interessiert, starrte demonstrativ zu den Bergen auf der anderen Seite hinüber. Das Mädchen Marga und La Floquet blieben in Thornhills Nähe.
»Also gut«, sagte Thornhill schließlich. »Lassen wir dem Aldebaraner Zeit, zu sich zu kommen. Vergessen wir ihn einstweilen und kümmern wir uns um uns selbst. La Floquet — was wissen Sie über dieses Tal?«
Der kleine Mann lächelte mild. »Nicht sehr viel. Ich weiß nur, daß wir uns auf einem Planeten mit irdischer Gravitation in einem Doppelsonnensystem befinden. Wieviele Rot-Blau-Sonnensysteme kennen Sie, Thornhill?«
Der Angesprochene zuckte die Schultern. »Ich bin kein Astronom.«
»Ich bin… war es…«, sagte Marga. »Es gibt Hunderte solcher Systeme. Wir können überall in der Galaxis sein.«
»Können Sie unsere Position nicht an Hand der Sternkonstellationen bei Nacht erkennen?« fragte Thornhill.
»Hier gibt es keine Konstellationen«, antwortete La Floquet. »Das Dumme ist nämlich, daß sich immer eine der beiden Sonnen am Himmel befindet. Auf dieser Welt gibt es keine Nacht. Wir können keinerlei Sterne sehen. Aber unsere Position im All ist auch unwichtig.« Der Mann kicherte impulsiv. »McKay wird recht behalten — wir werden das Tal niemals verlassen. Wie könnten wir auch Kontakt mit jemandem aufnehmen, selbst wenn wir die Bergkette überwinden würden? Wir können es nicht.«
Ein fernes Donnergrollen zog plötzlich Thornhills Aufmerksamkeit auf sich. Ein rollendes Krachen wurde von den fernen Bergen zurückgeworfen und verebbte langsam.
»Hört mal«, sagte Thornhill.
»Ein Gewittersturm«, erklärte La Floquet. »Von außerhalb unserer Grenzen. Gestern um diese Zeit geschah dasselbe. Es stürmt — aber nicht hier drinnen. Wir leben in einem verzauberten Tal, in dem immer die Sonne scheint und das Leben sehr angenehm ist.« Sein Gesicht verzog sich zu einer bitteren Grimasse. »Angenehm!«
»Gewöhnen Sie sich daran«, sagte Thornhill. »Vielleicht werden wir sehr lange hier sein.«
Die Zeiger seiner Uhr standen auf sechzehn Uhr vierundzwanzig, als sie schließlich den Hügel hinaufstiegen, um den Aldebaraner abzuholen. In den zwei Stunden, die bisher vergangen waren, hatte Thornhill den Wechsel der Sonnen beobachten können — die rote war langsam schwächer geworden, die blaue strahlte intensiver. Ganz offensichtlich war es so, wie La Floquet gesagt hatte — daß es hier keine Nacht gab, daß diese Welt rund um die Uhr hell angestrahlt wurde. Mit der Zeit würde er sich daran gewöhnen, er war anpassungsfähig.
Neun Lebewesen von genausoviel verschiedenen Welten und Gesellschaften waren in einem Zeitraum von nur vierundzwanzig Stunden in dieses Tal gebracht worden, in dem es keine Dunkelheit gab. Von den neun waren sechs Wesen menschlicher Abstammung, drei waren Fremdlebewesen. Von den sechs waren vier Männer und zwei Frauen.
Thornhill dachte über seine Gefährten nach. Wie wenig er doch von ihnen wußte. Vellers, der kräftige Mann, kam von der Erde — mehr war Thornhill über ihn nicht bekannt. McKay und die unscheinbare Frau waren ihm unbekannte Größen. Weder der Regulaner noch der Spicaner hatten bisher auch nur ein Wort gesagt — falls sie überhaupt eine terranische Sprache beherrschten. Was Marga betraf, so war sie Astronomin und sehr hübsch, aber mehr wußte er auch von ihr nicht. La Floquet war ein interessanter Typ — ein kleines Kraftbündel, schlau und energiegeladen aber absolut schweigsam, was seine Vergangenheit betraf.
Hier waren sie nun — neun Wesen ohne Vergangenheit; die Gegenwart war ihnen genauso ein Rätsel wie ihre Zukunft.