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»Dieser Lügner!«

»Wieso das?« fragte Thornhill, nur halb überrascht.

»Auf dem Berg war kein Nebel«, stieß Vellers bitter hervor. »Wir kamen erst auf dem Rückweg in den Nebel, und er hat ihn einfach als Ausrede vorgeschoben. Der kleine Ochsenfrosch macht viel Lärm, aber es ist nichts dahinter.«

Ernst sagte Thornhilclass="underline" »Erzählen Sie, was sich dort oben ereignet hat. Wenn nicht wegen des Nebels, warum sind Sie dann umgekehrt?«

»Wir waren kaum achthundert Meter hoch«, fuhr Vellers fort. »Er ging voran. Plötzlich aber fiel er zurück und wurde ganz blaß im Gesicht. Er sagte, er könne nicht weitergehen.«

»Warum? Hatte er vor der Höhe Angst?«

»Ich glaube nicht«, sagte Vellers. »Eher denke ich, daß er Angst hatte, ganz hinaufzugehen und zu sehen, was sich dort befindet. Vielleicht weiß er, daß es keinen Ausweg gibt. Vielleicht hat er zu viel Angst, sich das einzugestehen. Ich weiß es nicht. Aber er hat mich überredet, ihm wieder nach unten zu folgen.«

Plötzlich schnaufte Vellers laut, und Thornhill sah, daß La Floquet unbemerkt hinter ihm aufgetaucht war und den großen Mann in die Seite gestoßen hatte. Vellers drehte sich um.

»Narr!« schrie La Floquet. »Was soll dieses Märchen, Vellers?«

»Märchen? Nehmen Sie Ihre Hände von mir, La Floquet. Sie wissen sehr wohl, daß Sie es waren, der dort oben schlappgemacht hat. Reden Sie sich jetzt nicht heraus.«

In La Floquets Mundwinkeln zuckte es, seine Augen versprühten Blitze — er starrte Vellers an, als sei er eine aus einem Käfig entflohene Bestie. Plötzlich zuckte La Floquets Faust vor, Vellers stolperte rückwärts und schrie vor Schmerzen auf. Wütend schlug er zurück, verfehlte den wendigen kleinen Mann, der ihm geschickt auswich und einen zweiten Schlag ans Kinn von Vellers landete. Dann sprang er wieder zurück, während Vellers verzweifelt versuchte, einen entscheidenden Schlag anzubringen. La Floquet kämpfte wie ein in die Enge getriebener Fuchs.

Thornhill lief unruhig hin und her, vermied es angestrengt, Vellers' massiven Fäusten in den Weg zu kommen, als der Riese immer noch versuchte, La Floquet zu erwischen. Plötzlich war der Aldebaraner heran, und da griff auch Thornhill zu. Er packte einen Arm von Vellers, erwischte auch den zweiten, während der Fremde La Floquet auf die gleiche Art außer Gefecht setzte.

»Genug!« sagte Thornhill scharf. »Es ist unwichtig, wer von Ihnen beiden lügt. Miteinander zu kämpfen, ist doch Dummheit — das haben Sie mir heute früh selbst noch erzählt, La Floquet.«

Vellers gab nach, beobachtete aber La Floquet weiter aufmerksam. Der Kleine lächelte. »Die Ehre muß verteidigt werden, Thornhilclass="underline" Vellers hat Lügen über mich verbreitet.«

»Ein Feigling sind Sie und ein Lügner zugleich«, sagte Vellers düster.

»Ruhe jetzt, alle beide«, befahl Thornhill. »Seht mal dort oben!«

Er streckte eine Hand aus.

Dicht über ihnen zog sich eine dunkle Wolke zusammen — der Wächter nahte. Während des wütenden Streits hatten sie sein Kommen nicht bemerkt. Thornhill starrte hinauf, versuchte, in dem amorphen Gebilde eine Lebensform auszumachen. Es war unmöglich. Er sah nur dunkle Wolken, die das düstere Tageslicht noch dunkler werden ließen.

Plötzlich spürte er, wie der Boden unter ihm fast unmerklich erzitterte. Was wird jetzt? dachte er, während er angestrengt in die zunehmende Dunkelheit starrte. Ein Geräusch wie ein weit entfernt verklingender Akkord ertönte in seinen Ohren — vielleicht eine Vibration unterhalb des Hörbereichs, die ihn benommen machte, ihn beruhigte.

Friede sei unter euch, meine Lieblinge, sagte die tonlose Stimme fast klagend. Ihr streitet euch zu viel. Friede soll unter euch sein…

Der fast unhörbare Klang umspülte Thornhill, reinigte ihn, wusch allen Haß und alle Wut ab. Er stand einfach lächelnd da, nicht wissend, warum er lächelte, nur Frieden und Ruhe verspürend.

Die Wolke erhob sich wieder — der Wächter zog sich zurück. Die unhörbare Musik verebbte, das Vibrieren des Bodens hörte auf. Es herrschte wieder Ruhe im Tal, alles schien in perfekter Harmonie zu sein. Dann war es ganz still.

Lange Minuten sprach keiner von ihnen. Thornhill sah sich um, entdeckte auf La Floquets Gesicht eine völlig ungewohnte Sanftheit, sah, wie sich in Vellers' breitem, wütendem Gesicht ein Lächeln den Weg bahnte. Er selbst verspürte keinerlei Regung, sich mit irgendwem zu streiten.

Weit hinten in seinem Gehirn klangen noch die Worte des Wächters nach und versuchten, die Oberhand über ihn zu gewinnen: Friede sei unter euch, meine Lieblinge.

Lieblinge.

Sie waren nicht einmal Ausstellungsstücke in einem Zoo, dachte Thornhill mit zunehmender Bitterkeit, während die Wirkung der Beruhigungs-Dusche langsam nachließ. Sie waren Haustiere, verhätschelte Haustiere.

Dann bemerkte er, daß er zitterte. Das Leben in diesem Tal war ihm so erstrebenswert vorgekommen. Jetzt wollte er laut schreien, wollte seine Wut und seine Enttäuschung in die Bergwände brüllen, die sie umschlossen, aber die Wellenbehandlung wirkte immer noch nach. Thornhill war nicht in der Lage, seinem Ärger Luft zu machen.

In den darauffolgenden Tagen begann er, immer jünger zu werden. McKay, der älteste unter ihnen, zeigte als erster Wirkung der Verjüngung. Es war am vierten Tag im Tal — die Tage bestimmten sie mangels anderer Möglichkeiten nach dem Zyklus der roten Sonne. In dieser Zeit hatten sich die neun zu etwas zusammengefunden, was einem normalen Alltagsleben ähnelte. Seit der Wächter es für nötig befunden hatte, sie zu beruhigen, hatte es auch keine Ausbrüche von Bitterkeit zwischen ihnen gegeben; jeder ging friedlich seinen Gewohnheiten und Vorlieben nach; das Bewußtsein über ihren Status als Haustiere lähmte die Gruppe fast.

Man stellte fest, daß sie wenig Bedarf an Nahrung oder Schlaf hatten; das Manna ernährte sie gut, und was den Schlaf betraf, so reichten kurze Nickerchen aus, wenn sich die Gelegenheit dazu einmal bot. Die meiste Zeit verbrachten sie damit, sich gegenseitig aus ihrem Leben zu erzählen, mit Wanderungen durch das Tal oder mit dem Schwimmen im Fluß. Thornhill begann sich schrecklich zu langweilen.

McKay hatte in das dahineilende Wasser gestarrt, als es ihm das erstemal aufgefallen war. Er stieß einen kurzen, lauten Schrei aus; Thornhill, der geglaubt hatte, daß etwas Schlimmes vorgefallen sei, rannte eiligst zu ihm hinüber.

»Was ist geschehen?«

McKay schien nicht in Schwierigkeiten zu stecken. Er starrte nur ständig auf sein Spiegelbild im Wasser. »Welche Farbe hat mein Haar, Sam?«

»Nun, grau — und… und ein wenig Braun.«

McKay nickte. »Eben. Mein Haar ist schon seit zwanzig Jahren nicht mehr braun gewesen!«

Inzwischen hatten sich fast alle anderen um sie versammelt. McKay deutete auf sein Haar und sagte: »Ich werde jünger. Ich spüre es überall. Und seht — seht euch mal La Floquets Kopf an!«

Erschrocken faßte sich der kleine Mann mit einer Hand auf seinen kahlen Schädel — und zuckte wie vom Donner gerührt zurück. »Mir wachsen wieder Haare«, sagte er leise, während er sanft über den Flaum strich, der auf seinem sonnengebräunten Kopf gewachsen war. Auf seinem Gesicht machte sich ungläubiges Staunen breit. »Das ist doch unmöglich!«

»Es ist auch unmöglich für einen Menschen, wieder von den Toten aufzuerstehen«, erinnerte Thornhill ihn. »Der Wächter sorgt wirklich sehr gut für uns.«

Er sah sie alle der Reihe nach an — McKay und La Floquet, Vellers, Marga, Lona Hardin, die Fremden. Ja, sie hatten sich alle verändert. Alle sahen gesünder, jünger, lebhafter und kräftiger aus.

Auch bei sich selbst hatte er die Veränderung gespürt. War das das Werk des Wächters oder eine wundersame Eigenschaft dieses Geländes?