„Das ist alles, was wir für dich sind... ein Mittel zum Zweck. Eine Methode, um schneller mehr Orcs zu töten.“
„Was gibt es denn noch?“, fragte sie. „Khadgar hat mich nur gefunden, weil meine Leute und ich Orcs in Alterac gejagt haben. Ich stimmte dem Treffen mit ihm in Nethergarde zu, weil sein Bote meinte, dass es um die Orcs geht. Und ich habe dir diese Nachricht aus demselben Grund überbracht.“ Sie furchte die Stirn. „Und je eher wir in Lordaeron ankommen, desto eher kann ich mehr von diesen grünen Missgeburten aufspüren und das Land von ihrer Plage befreien!“ Ihre Stimme hob sich vor Begeisterung, und ihre Augen blitzten. Ein paar Leute schauten sich nach ihr um. „Ich will sie töten, jeden Einzelnen von ihnen. Und wenn es hundert Jahre dauert.“
Turalyon lief ein Schauer über den Rücken. „Alleria“, begann er und hielt seine Stimme gesenkt. „Du redest von Völkermord.“
Das Lächeln auf ihrem Mund wurde grausam. „Es ist nur Völkermord, wenn es sich um vernunftbegabte Wesen handelt. Wir aber vernichten Ungeziefer.“
Er erkannte schockiert, dass sie das völlig ernst meinte. Für sie waren die Orcs keine fühlenden Wesen. Sie betrachtete sie als Missgeburten, Monster... Ratten. Turalyon wusste, dass auch er etliche Orcs getötet hatte. Sogar mit großer Wut im Herzen angesichts dessen, was sie seinem Volk angetan hatten. Aber das hier... Alleria wollte keine Gerechtigkeit. Sie wollte die Orcs nicht für ihre Verbrechen bezahlen lassen, sie wollte ihnen wehtun. Eine ganze Rasse auslöschen, wenn sie das konnte.
Er trat auf sie zu, reichte ihr seine Hand und hoffte, dass sie sie ergriff. „Du hast so viel verloren. Das weiß ich.“
Alleria schlug seine Hand weg. „Ha! Ein Mensch spricht von Verlust? Was weißt du schon davon? Eure Leben sind so kurz, dass ihr niemals erfahrt, was es heißt, jemanden wirklich zu lieben!“
Turalyon spürte, wie er bleich wurde. Einen Moment lang konnte er nicht antworten. Sie sah ihn an, atmete schnell und provozierte eine Antwort.
„Nur weil ihr länger lebt, bedeutet das nicht, dass ihr auch mehr fühlt“, sagte er. „Vertrau mir.“ Er warf ihr einen flehenden Blick zu. Ihr Gesicht versteinerte nur noch mehr.
„Also bist du besser als ich, weil du so kurz lebst?“ Sie sah ihn herausfordernd an und schnipste mit dem Finger. „Oder bist du besser, weil du deinem heiß geliebten Licht dienst?“
„Alleria, ich will, dass die Gerechtigkeit siegt. Das weißt du. Aber du willst keine Gerechtigkeit, du willst Rache. Und ich sehe, was dir das antut. Das Licht gehört nicht mir. Es gehört allen. Es geht ums Heilen. Es...“
„Wage es nicht, mich zu belehren!“, warnte sie ihn. Ihre Stimme war ein eiskaltes Zischen. „Dein Heiliges Licht hielt die Orcs nicht davon ab, einen Weg in diese Welt zu finden, oder? Das Licht kann mein verwüstetes Heimatland nicht wiederherstellen oder mir meine...“ Sie schloss den Mund.
Turalyon starrte sie einen Moment lang an, dann seufzte er tief. „Waldläuferin“, sagte er förmlich. „Dies sind meine Befehle: Im Moment bleibt Ihr hier in Sturmwind, mit der Hälfte meiner Streitmacht und mit mir. Schickt nach Euren Leuten, dass sie sich hier sammeln. Die Stadt kommt gerade erst auf die Beine, ich werde sie nicht ungeschützt lassen.“
Ihre Zähne knirschten. „Also sitzen wir den Krieg hier wie Feiglinge aus?“
Turalyon ging nicht darauf ein. „Ich fordere Unterstützung an, und wenn die eintrifft, reiten wir los. Aber bis dahin bleiben wir hier.“
Sie nickte. „Du schützt eine Stadt, wenn es deine eigene ist. Das verstehe ich jetzt. Habe ich die Erlaubnis zu gehen, um meine Waldläufer zu sammeln, Euer Gnaden!“
Allerias Worte waren dazu gedacht zu verletzen, und das taten sie auch. Aber Turalyon war besorgter über das, was mit Alleria geschehen war oder, besser gesagt, was sie sich selbst antat. Sie hatte sich stark verändert. Traurig erinnerte er sich, wie sie einst aufeinander reagiert hatten. Er stammelnd, erschlagen von ihrer Anmut und Schönheit und später von ihren vollendeten Fähigkeiten. Und sie, amüsiert, fasziniert und leicht hochmütig. Er hatte etwas von seiner Scheu verloren, nicht alles, das würde er niemals, aber etwas, und sie hatte mehr Respekt vor ihm bekommen. So hatte sie ihn lieben gelernt. Sie suchte seine Gesellschaft. Sie wollte ihn an ihrer Seite im Kampf haben. Und, so hatte er einst geglaubt, wollte ihn auch auf eine intimere Art.
Aber von dieser Frau schien nur noch wenig übrig zu sein. Heute konnte er sich nur noch um sie sorgen und sich fragen, ob ihr Hass auf die Orcs ihre Urteilsfähigkeit beeinflusste. Beim Licht... wenn sie wegen ihrer Rücksichts-losigkeit starb...
Turalyon sah sie gehen und fragte sich, ob er die richtige Entscheidung getroffen hatte. Was hätte Lothar getan? Hätte er auf das Eintreffen der Verstärkung gewartet, oder hätte er sich in die Schlacht gestürzt? Verschwendete er seine Zeit, oder handelte er klug? Reichte es, seinen Stellvertreter Danath Trollbann und die Hälfte seiner Männer jetzt nach Nethergarde zu entsenden?
Er schüttelte den Kopf, um ihn frei zu bekommen. Er konnte sich solche Zweifel jetzt nicht erlauben, und seine Entscheidung schien die richtige zu sein. Er musste ein paar Boten ausschicken. Einen zu den Wildhammerzwergen, um sie über die Lage zu informieren. Den anderen nach Lordaeron.
Und einen, dachte er mit einem leichten Lächeln, zu Mekkadrill, um ihn wissen zu lassen, dass die Männer, die als Rattenfänger beim Bahnbau gedacht waren, nun leider doch nicht kommen würden.
Alleria kehrte nicht zur Burg zurück, wie sie es gesagt hatte. Stattdessen begann sie, nachdem sie die Kathedrale verlassen hatte, leichtfüßig zu laufen. Sie bewegte sich fast lautlos, als sie entlang der Straßen auf die großen Tore der Stadt zurannte. Dabei ignorierte die Elfe aufgeschreckte Blicke und versuchte, durch das dumme Glotzen nicht noch ärgerlicher zu werden.
Schließlich eilte sie durch die Tore in den Wald dahinter. Alleria lief, bis sie einen kleinen Fluss erreichte, und dort, unter den Ästen der schützenden Bäume, sank sie auf den durchgeweichten Boden.
Ihr war kalt, sie war durchnässt. Aber sie ignorierte die Unannehmlichkeiten.
Es war noch schlechter gelaufen, als sie befürchtet hatte. Wie konnte es sein, dass ein einfacher Mensch sie derart aufzuwühlen vermochte? Er war verglichen mit ihr noch ein Kind, ein rüdes, lautes Kind, das...
Als sie die Worte dachte, wusste sie, dass sie nicht stimmten. Turalyon war erschreckend jung, verglichen mit ihr. Aber er galt etwas unter den Seinen, und er war freundlich, weise und klug.
Und einst, es schien ihr unendlich lange her zu sein, hatte sie geglaubt, ihn zu lieben.
Alleria knurrte und legte die geballte Faust auf ihr Herz als Ermahnung an sich selbst, nicht weich zu werden. Ihre Finger berührten die silberne Halskette, die drei wertvolle Steine enthielt. Sie hatte die Kette von ihren Eltern erhalten, es war eine Verbindung zu einer Welt, die vergangen war. Eine Welt voller Anmut, Schönheit und einem perfekten Gleichgewicht. Eine Welt, die die Orcs für immer zerstört hatten.
Die Bäume waren nicht dieselben wie im Immersangwald. Diese schönen, goldbelaubten Patriarchen, auf deren Ästen sie, ihre Schwestern und...
Sie kniff die Augen zu und flüsterte einen Namen: „Lirath.“
Ihr jüngster Bruder. Sie erinnerte sich an ihn, wie er beim letzten Treffen ausgesehen hatte. Schön, lachend unter den goldenen Blättern tanzend, während ein Spielmann ein lustiges Lied gepfiffen hatte. Jung, so jung. Er wollte ein Waldläufer werden wie seine Schwestern. In jenem Moment hatte sie ihn für immer in ihren Gedanken aufgenommen. Alleria sah, wie er sich des Lebens erfreute.
Die Orcs hatten ihn abgeschlachtet, löschten sein Leben aus wie eine Flamme, brutal zwischen Daumen und Zeigefinger zerquetscht.
Sie hatten so viele getötet, zu viele Verwandte, Vettern, Tanten, Onkel, Nichten... hatten Freunde getötet, die sie länger kannte, als Turalyon lebte...
Und dafür würden sie bezahlen. Ihre Hand umfasste die Kette fester. Sie würden leiden, so wie der freundliche junge Lirath. So wie ihr Volk, ihre Stadt und ihr Land. Sie würden die tausendfachen Schmerzen erleiden, die sie ihnen angetan hatten. Es würde süß sein... süß wie Blut, das sie einst nach einem Kampf neugierig von ihrer Hand geleckt hatte. Turalyon hätte sie beinahe dabei erwischt. Jetzt, sagte sie sich selbst, durfte er davon nichts wissen.