Randal versuchte, etwas in der Finsternis auszumachen. Speer und Schild hielt er bereit. War da nicht etwas? Oder dort? Er lauschte angestrengt.
War da ein Geräusch? Ein Aufschlagen, als wäre etwas gerollt oder fallen gelassen worden. War es da nicht schon wieder?
Ja, er war sich sicher, dass er etwas gehört hatte. Er wandte sich in die Richtung, aus der er das Geräusch zu hören meinte, hob seinen Speer leicht an und instinktiv auch den Schild...
... und schrie auf, als ihn etwas Schweres wie einen Halm unter sich begrub. Der Aufprall erschütterte seinen Arm.
Den Schmerz ignorierend, stieß Randal den Speer vor, aber etwas packte die Waffe an ihrem langen Schaft und drehte sie ihm aus der Hand. Ein Gesicht erschien aus der Finsternis, direkt vor seinem eigenen... ein breites, riesiges Gesicht mit einer markanten Stirn, platter Nase und zwei scharfen Hauern, die aus dem Unterkiefer ragten.
Eine furchterregende Grimasse grinste Randal an, und er sah, dass noch etwas anderes aus den Schatten auf ihn zukam, etwas Breites, Flaches...
Die anderen Wachen sammelten sich, von Williams Horn alarmiert. Aber es war bereits zu spät. Die Finsternis erfüllte das Tal, und während die Menschen verwirrt wurden, strömten Orc-Krieger und Todesritter aus dem sich neu erweiternden Spalt und zermalmten alles, was ihnen im Weg stand. Es glich mehr einem Abschlachten als einem echten Kampf. Binnen Minuten war jeder menschliche Verteidiger tot oder gerade dabei zu sterben.
Danach kontrollierten die Orcs das Dunkle Portal auch auf der Seite von Azeroth.
6
Geflüster.
Leises, kaum zu hörendes Getuschel, es sei denn, man achtete darauf. Der Schlag eines Flügels, der Klang eines Blattes, das zu Boden fällt... all das war lauter als das Flüstern, das Ner’zhul vernahm.
Aber er hörte es.
Er hielt den Schädel in der Hand, schaute tief in die leeren Augenhöhlen und lauschte Gul’dans Stimme. Sie klang so wie zu Lebzeiten – schleimig, um Zustimmung heischend, eifrig Fragen beantwortend und Lösungen anbietend – und verbarg dennoch kaum seine Verachtung. Und seine Gier nach Macht.
Gul’dan versuchte seinen ehemaligen Lehrer auch aus dem Jenseits heraus noch in falscher Sicherheit zu wiegen. Aber Ner’zhul würde kein zweites Mal darauf hereinfallen. Ner’zhul hatte mit seiner Leichtfertigkeit sein Volk unabsichtlich verraten. Und dieser Orc, dessen Schädel in seiner gichtigen Hand lag, war aufgestiegen, weil er geglaubt hatte, den alten Schamanen ausgeschaltet zu haben.
„Wer lebt jetzt und ist an der Macht – und wer ist nun tot, mein Schüler?“, raunte er dem Schädel zu.
Ner’zhul blinzelte plötzlich und wurde aus seiner Unterhaltung mit dem Schädel aufgeschreckt, als Helligkeit in sein Zelt fiel. Eine Silhouette stand im Gegenlicht.
„Wir kontrollieren das Portal!“, verkündete Grom Höllschrei.
Ner’zhul lächelte. Bis jetzt war alles nach Plan verlaufen. Gedankenverloren streichelte er den gelblichen Schädel – wie ein Haustier, das nach seiner Aufmerksamkeit lechzte. Gul’dans Schädel würde ihm dabei helfen, den Spalt zu öffnen.
Ner’zhul winkte Grom und dessen Gefährten Teron Blutschatten hinein. Er hatte sie zu seinen Stellvertretern gemacht. Blutschatten kümmerte sich um die Todesritter und Oger. Grom leitete Ner’zhuls Befehle an die Klans weiter. Und das waren jetzt viele Klans: Die Donnerfürsten, die Lachenden Schädel und die Knochenmalmer waren ihnen beigetreten. Nur der Redwalkerklan wollte nicht – zumindest der Teil, der noch davon übrig war. Alle anderen Klans hatten sich unter seiner Führung vereint und machten die Horde beinahe so stark wie vor dem ersten Angriff auf Azeroth. Beinahe.
„Ich bin sehr zufrieden“, sagte er. „Und nun... ihr wisst, was jetzt zu tun ist.“
„O ja, ich weiß, was zu tun ist“, versicherte Blutschatten dem alten Schamanen. „Aber bist du dir sicher, dass du den Spalt offen halten kannst?“
Selbst mit der Hilfe des Schädels und dessen Vorschlägen, die nicht alle gut oder vernünftig gewesen waren, mussten mehrere Todesritter zusammenarbeiten, um Ner’zhul dabei zu helfen, den Spalt genügend auszuweiten.
Das ist pure Arroganz! Er sollte nicht so mit dir sprechen, drang das leise Flüstern aus dem Schädel.
Nein. Das sollte er nicht.
„Ich schaffe das“, antwortete Ner’zhul knapp und spürte die Kraft in sich, mehr Kraft, als er seit Jahren empfunden hatte. Es war, als hätte das Anzapfen der Energie etwas tief in ihm erweckt, etwas, von dem er nie gewusst hatte, dass es ihm fehlte. Und es fühlte sich... gut an. „Wenn der Rahmen erst wieder steht, wird das Portal sich selbst stabilisieren. Widme dich einfach deinen Pflichten, Teron.“
Aus der Dunkelheit der Kapuze flackerten die Augen des Todesritters. Dann nickte er knapp und wandte sich um, sein Umhang wehte hinter ihm her, als er das Zelt verließ.
Ner’zhul wandte sich Grom zu, der nickte. „Ich bin bereit, Ner’zhul. Mehr als bereit.“
„Sehr gut. Je eher du anfängst, desto schneller erreichst du unsere Ziele.“ Grom riss seine Axt zum Gruß hoch, dann folgte er Blutschatten.
Ner’zhul wartete einen Moment in der Dunkelheit, dann verließ er das Zelt und sah gerade noch, wie der Orc und der Todesritter zum Portal gingen und in die andere Welt hinüberschritten. Ein Ort, an dem er selbst nie gewesen war.
Er schaute auf den Spalt, und seine Finger strichen über die glatte Oberfläche von Gul’dans Schädel.
Und du wirst Azeroth nie seiner betreten müssen. Bald wirst du großen Ruhm erlangen!, erklang die eifrige, tote Stimme.
Ja, überlegte Ner’zhul, sehr bald schon...
„Was gibt es Neues?“, wollte Teron Blutschatten von Gaz Soulripper wissen, als er Azeroth betrat. Der andere Todesritter hatte eine Handvoll seiner Artgenossen durch den Spalt geführt, kaum dass dieser sich geöffnet hatte. Jetzt leitete er die Arbeiten auf der Azeroth-Seite des Portals. Während sich die Orcs darum kümmerten, das Portal aus den Überresten, die überall verstreut lagen, neu zu errichten, verwandelten es die Todesritter in etwas, das mehr als ein materieller Tordurchgang war. Mit ihrer schwarzen Magie konnten sie den Spalt erweitern und stabilisieren, sodass er der Horde von noch größerem Nutzen war.
„Das war fast schon zu leicht“, antwortete Soulripper lachend. „Durch die magische Finsternis hatten die Menschen niemals eine Chance.“ Er deutete hinter sich, wo Blutschattens Sinne den Torrahmen trotz der magischen Finsternis, die das Tal erfüllte, erspüren konnten. „Wir kommen gut mit dem Rahmen voran. Er sollte in den nächsten ein, zwei Tagen fertig sein.“
Blutschatten grunzte und inspizierte die Arbeit. Ein einfacher Steinbogen an der Spitze einer kurzen Rampe hatte das ursprüngliche Dunkle Portal gebildet. Als das Portal eingestürzt war, war der Durchgang ebenfalls zerstört worden. Die Orcs, die sie zum Wiederaufbau zwangen, hatten bereits die Überreste beseitigt und setzten die Steinblöcke zusammen, die von Draenor durchgereicht wurden. Der Rahmen war eher funktional als schön. Nur ein paar orcische Runen waren schnell eingraviert worden. Aber solange es ausreichte, um das Portal zu stabilisieren, war es Blutschatten egal.
„Was ist mit den anderen Klans, die sich noch auf dieser Welt befinden?“, fragte er.
„Wir haben mit ihnen über Träume und Visionen Kontakt aufgenommen. Gleich nachdem wir das Tal gesichert hatten“, antwortete Soulripper. „Keine Ahnung, wie lange sie brauchen werden, um zu uns zu kommen.“
Bereits wenige Stunden später hörte Blutschatten Schritte. Er erhob sich von dem Felsen, gegen den er sich gelehnt hatte, bemerkte, dass das Portal beinahe fertig war, und wartete.
Die unnatürliche Dunkelheit bestand immer noch, sie würde die Menschen von einem zu frühen Gegenangriff abhalten und gab ihnen etwas zum Grübeln. Aber weder Orcs noch Todesritter wurden davon behindert. Und die Schritte kamen stetig näher.