„Nun gut.“ Blutschatten verneigte sich. „Dann gibt es nichts mehr zu besprechen.“
Rend lachte. „Mach nur“, wies er ihn an. „Ich kann es kaum abwarten, von deiner blutigen Vernichtung zu hören.“ Er und sein Bruder verfielen in erneutes Gelächter, das durch den Saal in die Hallen und Gänge dahinter drang, während Blutschatten seine entmutigte Gruppe aus der Burg hinaus- und den Berg hinunterführte.
Die Sonne war bereits untergegangen und das letzte Licht der Dämmerung gewichen. Der Himmel war völlig schwarz. Blutschatten blickte in die tanzenden Flammen des Lagerfeuers.
Die Dinge waren nicht nach Plan verlaufen. Er war tief in Gedanken versunken und überdachte den nächsten Schritt. Die anderen waren in weiser Voraussicht still. Das einzige Geräusch kam vom knisternden Feuer, und ab und zu erklang das Gemurmel leise geführter Unterhaltungen.
Ein plötzlicher Laut ließ sie alle aufspringen.
„Menschen! Tötet sie!“, erklang der Ruf der Wachtposten. Die Todesritter blieben ruhig, aber die Orcs brüllten los. Sie waren froh, endlich ein Ziel für ihre Frustration zu haben.
Blutschatten konnte den Menschen erkennen, der tapfer in ihr Lager kam. Tagar griff ihn an und schlug mit dem Knüppel zu. Dieser Hieb würde den zerbrechlichen Schädel des Menschen zerschmettern...
Doch was stattdessen geschah, paralysierte alle. Blutschatten beobachtete, wie der Mensch mit einer beiläufigen Bewegung den Knüppel abfing und ihn dem Orc aus dem Griff wand.
Tagar starrte den Mann entgeistert an. Dann wollten er und die anderen sich erneut auf ihn stürzen.
Der Mensch rief: „Aufhören!“
Selbst Blutschatten bezweifelte, dass er etwas gegen ihn ausrichten konnte. Denn die Macht, die in diesem einen Wort lag, war immens.
Wer war der Mann? Blutschatten beobachtete neugierig, wie der Mensch in den Kreis des Feuerscheins trat. Unter seinesgleichen hätte der Mann als schön gegolten, überlegte Blutschatten. Er war groß, gut gebaut für einen Menschen, mit glänzendem Haar und starken, aber edlen Gesichtszügen. Dazu trug er prächtige Kleidung und ein juwelenverziertes Schwert. Er schmunzelte und zupfte etwas von seinem Ärmel.
„Ich weiß, dass ihr mich am liebsten sofort wieder angreifen würdet. Aber meine Kleidung wurde für heute schon genug beschmutzt. Ich mag es nicht, wenn euer Blut daran klebt.“ Er grinste gefährlich, und seine perfekten Zähne blitzten. „Ich bin nicht das, was ich zu sein scheine.“ Der Schatten hinter ihm flackerte, plötzlich schien er sich zu erheben, wuchs zu monströser Größe an und formte große Schattenflügel, die sich ausbreiteten.
„Wer bist du?“, fragte Blutschatten.
„Man kennt mich unter vielen Namen.“ Das Lächeln des Mannes wurde breiter. „Einer davon ist... Todesschwinge.“
Todesschwinge! Blutschatten war erschüttert. Er glaubte dem Mann, so bizarr es auch klingen mochte. Er hatte bereits ein wenig von seiner Stärke gespürt. Blutschatten wusste, wer der schwarze Drache war: das vielleicht mächtigste Wesen auf Azeroth.
Sie hatten während des Krieges ein paarmal schwarze Drachen gesehen, und Blutschatten hatte sich oft gefragt, wieso der Drachenmalklan nicht die schwarzen gefangen genommen hatte statt der widerspenstigen roten. Er hatte vermutet, dass das wohl zu schwierig war, oder dass niemand Todesschwinges Zorn auf sich ziehen wollte.
Blutschatten versuchte zu sprechen, brachte vor Verblüffung aber keinen Ton heraus. Er versuchte es erneut. „W-was willst du von uns?“
Mit einer Geste seiner beringten Hand winkte Todesschwinge ab. „Beruhige dich“, antwortete er in verächtlichem Tonfall. „Ich will euch nichts tun, sonst wärt ihr bereits Asche.“ Seine Augen leuchteten für eine Sekunde auf und ließen das Feuer erahnen, das tief unter seiner menschlichen Fassade schwelte. „Ganz im Gegenteil. Ich habe euch beobachtet, und ich würde gern mit euch ins Geschäft kommen.“
Er legte ein Taschentuch auf einen nahe liegenden Felsen, setzte sich neben das Feuer und bedeutete ihnen, dasselbe zu tun. Sie gehorchten langsam. „Ihr seid von beeindruckender Stärke und Zielstrebigkeit.“ Er lächelte sie an. „Ich würde gern die Welt kennenlernen, die solche Wesen hervorbringt.“
Blutschatten beobachtete den uneingeladenen Gast. Wollte Todesschwinge Draenor besuchen? Und wenn ja, warum?
Als hätte er seine Gedanken gelesen, blickte Todesschwinge Blutschatten an und nickte. Seine dunklen Augen glänzten, und er wirkte dabei ganz wie ein selbstbewusster Mensch. „Ich weiß von eurem Treffen mit Rend Schwarzfaust“, sagte Todesschwinge leise. „Er und sein Bruder sind beides Idioten. Aber nicht ohne Macht. Und ich weiß, dass ihr die roten Drachen des Drachenmalklans braucht, die der Klan... versklavt hat.“ Seine Mundwinkel zogen sich beim letzten Wort nach oben, als würde ihn die Idee erheitern. „Die roten sind minderwertige Wesen, wenn ihr mich fragt. Mir schleierhaft, was ihr mit denen wollt.“
Blutschatten wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte. „Drachen sind machtvolle Wesen“, begann er vorsichtig.
„Das sind wir tatsächlich. Du willst uns als Verbündete? Dann kann ich dir ein Angebot machen. Meine mächtigen Kinder werden dir helfen, und zwar freiwillig statt unter Zwang.“
Einer der Orcs, der offensichtlich bemüht war, den unerwarteten Gast zufriedenzustellen, bot Todesschwinge einen Krug Bier an. Die große Kreatur fixierte den Orc finster. „Nimm das faulige Zeug weg!“ Duckend entfernte sich der Orc. Todesschwinge beruhigte sich und wandte seinen feurigen Blick wieder Blutschatten zu. „Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, ich biete dir die Hilfe meiner Kinder an. Als Gegenleistung verlange ich sicheren Durchgang durch das Dunkle Portal und Hilfe beim Transport einer Fracht.“
„Du willst nach Draenor?“, platzte Tagar heraus. „Warum?“
Das Lächeln, das Todesschwinge dem Häuptling des Knochenmalmerklans zuwarf, ließ den Orc verstummen. „Meine Planung geht dich nichts an, Orc“, sagte der Drachenmann leise zischend. „Aber keine Sorge. Sie wird eure Pläne nicht stören.“
Blutschatten zog das Angebot in Erwägung. Er brauchte Drachen, ganz egal welcher Farbe, damit sein Plan funktionierte. Wenn er annahm, musste er sich nicht wieder mit Rend abgeben, obwohl er dem selbst ernannten Kriegshäuptling bei Gelegenheit gern etwas Bescheidenheit eingebläut hätte. Er wusste nicht, was Todesschwinge vorhatte, aber solange es nicht mit seinen Plänen kollidierte, hatte er kein Problem damit, auf die Forderung des Drachen einzugehen.
„Sehr gut, Todesschwinge“, sagte er schließlich.
„Lord Todesschwinge.“ Er lächelte humorlos, und seine Stimme klang hart. „Lasst uns die Form wahren.“
Blutschatten neigte den Kopf. „Natürlich, Lord Todesschwinge. Das sehe ich auch so. Wir geben Euren... Leuten und der Ladung sicheres Geleit. Aber zuerst muss ich einen Auftrag erfüllen, weil ich selber eine Ladung abholen muss.“
„Nun gut“, stimmte Todesschwinge zu. Er stand anmutig auf. „Ich rede mit meinen Kindern und informiere sie über die Abmachung. Wenn ich wiederkomme, werde ich euch helfen.“ Er klopfte sich den Staub von den Händen, obwohl er nichts berührt hatte, und ohne ein weiteres Wort verschwand er in den Schatten.
„Gut“, sagte Blutschatten einen Moment später, als er sicher sein konnte, dass der Drache fort war und sich nicht aus der Dunkelheit heraus auf sie stürzen würde. „Packt ein. Wir müssen los, und wir haben nicht viel Zeit.“
Die anderen gehorchten eilig, alle waren offensichtlich froh, sich auf den Abbau des Lagers konzentrieren zu können, statt an die merkwürdige Gestalt denken zu müssen, die sich gerade mit ihnen verbündet hatte.
Blutschatten hoffte, dass Todesschwinge auch wirklich ein Verbündeter war. Denn wenn er etwas anderes im Schilde führte, konnten sie ihn nicht daran hindern.
Zwei Gestalten, eine männlich und eine weiblich, erwarteten Todesschwinge unweit des Lagers der Orcs. Der Mann war kräftig gebaut und trug einen kurz geschnittenen, dunklen Bart. Die Frau war zierlich, hatte bleiche Haut und langes, glattes Haar. Beide waren schwarzhaarig, und ihre Gesichtszüge glichen denen von Todesschwinge in seiner menschlichen Gestalt.